Weltflucht
Ich will in das Grenzenlose
zu mir zurück,
schon blüht die Herbstzeitlose
meiner Seele,
vielleicht – ist’s schon zu spät zurück!
O, ich sterbe unter euch!
Da Ihr mich erstickt mit euch.
Fäden möchte ich um mich ziehen,
Wirrwarr endend!
Beirrend,
euch verwirrend,
um zu entfliehn
meinwärts!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Weltflucht“ von Else Lasker-Schüler thematisiert den intensiven Wunsch des lyrischen Ichs, sich aus der bedrängenden Außenwelt zurückzuziehen und in eine innere, grenzenlose Sphäre zu entkommen. Es ist ein Ausdruck existenzieller Überforderung und der Suche nach Identität, Autonomie und innerem Frieden. Die Flucht ist jedoch keine einfache Bewegung nach außen, sondern eine Rückkehr „meinwärts“ – also zu sich selbst, in das eigene, wahre Innere.
Schon im ersten Vers wird diese Richtung angedeutet: „Ich will in das Grenzenlose / zu mir zurück“. Der Widerspruch zwischen dem Unendlichen („Grenzenlose“) und der Rückkehr zur eigenen Person verweist auf das paradoxe Bedürfnis, sich in einer Weite zu verlieren, die zugleich Identität stiftet. Das Bild der „Herbstzeitlose“, einer giftigen, aber zart blühenden Pflanze, symbolisiert sowohl Schönheit als auch Vergänglichkeit – und könnte auf einen seelischen Zustand hinweisen, der bereits vom Verwelken bedroht ist. Die Frage „vielleicht – ist’s schon zu spät zurück!“ bringt Angst vor Verlorenheit und eine gewisse Resignation zum Ausdruck.
Die zweite Strophe verdichtet die Beklemmung: „O, ich sterbe unter euch!“ – das lyrische Ich empfindet das Leben unter den anderen Menschen als erdrückend, ja tödlich. Die Zeile „Da Ihr mich erstickt mit euch“ verdeutlicht eine tiefe Entfremdung von der Gesellschaft, deren bloße Präsenz als Bedrohung empfunden wird. Die Welt, in der das Ich lebt, ist nicht lebendig oder nährend, sondern raubt Luft und Freiheit.
In den letzten Zeilen entwickelt sich eine kreative, fast spielerische Vorstellung von Rückzug: Das Ich möchte „Fäden“ um sich ziehen – es entsteht das Bild eines Kokons, eines selbstgewobenen Schutzraums. Der „Wirrwarr“ steht für Verwirrung, aber auch für Unzugänglichkeit. Durch dieses Labyrinth möchte das Ich sich von den anderen abschirmen, sie „beirren“ und „verwirren“, um seinen Weg „meinwärts“ zu gehen – eine Rückbewegung zur eigenen Wahrheit, frei von gesellschaftlichen Zwängen.
„Weltflucht“ ist somit ein eindringliches Bekenntnis zur Sehnsucht nach Selbstverwirklichung und seelischer Autonomie in einer als feindlich empfundenen Welt. Der Text schwankt zwischen Verzweiflung, Zorn und poetischer Vision eines Auswegs – ein charakteristisches Merkmal der expressionistischen Lyrik Lasker-Schülers, in der Innerlichkeit und Selbstbehauptung zentrale Themen sind.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.