Versöhnung
Es wird ein großer Stern in meinen Schoß fallen…
Wir wollen wachen die Nacht,
in den Sprachen beten,
die wie Harfen eingeschnitten sind.
Wir wollen uns versöhnen die Nacht –
so viel Gott strömt über.
Kinder sind unsere Herzen,
die möchten ruhen müdesüß.
Und unsere Lippen wollen sich küssen;
was zagst du?
Grenzt nicht mein Herz an deins –
immer färbt dein Blut meine Wangen rot.
Wir wollen uns versöhnen die Nacht,
wenn wir uns herzen, sterben wir nicht.
Es wird ein großer Stern in meinen Schoß fallen.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Versöhnung“ von Else Lasker-Schüler ist eine lyrisch-visionäre Beschwörung von Nähe, Trost und Liebe als heilende, fast heilige Kraft. In einer von Nacht und Sehnsucht durchdrungenen Atmosphäre ruft das lyrische Ich zur innigen Verbindung zweier Seelen auf, um Schmerz, Trennung und Sterblichkeit zu überwinden. Dabei werden mystische, kindliche und sinnliche Motive kunstvoll miteinander verwoben.
Der erste und der letzte Vers – identisch – rahmen das Gedicht ein mit dem Bild eines „großen Sterns“, der in den „Schoß“ fällt. Der Stern steht hier für etwas Göttliches, Schicksalhaftes oder Erlösendes, das in die Intimität des Ichs gelangt. Diese Wiederholung verleiht dem Gedicht eine kreisförmige Struktur und verstärkt die Ahnung eines Wunders, einer seelischen Erfüllung durch die ersehnte Versöhnung.
Die Nacht dient dabei nicht als dunkle Bedrohung, sondern als Raum der Möglichkeit: „Wir wollen wachen die Nacht“, heißt es – ein gemeinsames Wachen, das durch Beten in vielstimmigen, poetischen Sprachen geschieht, „die wie Harfen eingeschnitten sind“. Diese Formulierung verbindet Schmerz mit Schönheit – die Sprache selbst scheint verwundet, doch gerade dadurch entsteht Klang, Trost und vielleicht Heilung.
Die zentrale Bitte „Wir wollen uns versöhnen die Nacht“ wird mehrfach wiederholt und damit beschwörend verstärkt. Versöhnung bedeutet hier nicht nur zwischenmenschlichen Frieden, sondern auch Einklang mit dem Göttlichen („so viel Gott strömt über“) und mit dem eigenen inneren Kind („Kinder sind unsere Herzen“). Es ist ein tiefes Bedürfnis nach Ruhe, Geborgenheit und Sinnlichkeit, das sich in der zärtlichen Erwartung eines Kusses und im Wunsch nach Erlösung ausdrückt.
Die letzten Verse verbinden körperliche Nähe mit spiritueller Unsterblichkeit: „wenn wir uns herzen, sterben wir nicht“. Hier zeigt sich die zentrale Idee des Gedichts: Die Liebe, das Herzensbündnis, ist stärker als der Tod. Der große Stern, der fällt, kann als Symbol für diese Liebe gedeutet werden – ein überirdisches Licht, das ins Irdische eindringt und Hoffnung spendet. „Versöhnung“ ist somit ein poetisches Gebet für Liebe als heilsame Macht gegen Trennung, Angst und Vergänglichkeit.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.