Vagabunden
O, ich wollte in den Tag gehen,
alle Sonnen, alle Glutspiele fassen,
muss in trunkner Lenzluft untergehn
tief in meinem Rätselblut.
Sehnte mich zu sehr nach dem Jubel!
Dass mein Leben verspiele mit dem Jubel.
Kaum noch fühlt‘ meine Seele den Goldsinn des Himmels,
kaum noch sehen können meine Augen,
wie müde Welle gleiten sie hin.
Und meine Sehnsucht taumelt wie eine sterbende Libelle.
Gieße Brand in mein Leben!
Ja, ich irre mit dir,
durch alle Gassen wollen wir streifen,
wenn unsere Seelen wie hungernde Hunde knurren.
An allen Höllen unsere Lüste schleifen,
und sünd’ge Launen alle Teufel flehn
und Wahnsinn werden uns’re Frevel sein,
wie bunte, grelle Abendlichter surren;
irrsinnige Gedanken werden diese Lichte sein!
Ach Gott! Mir bangt vor meiner schwarzen Stunde,
ich grabe meinen Kopf selbst in die Erde ein!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Vagabunden“ von Else Lasker-Schüler stellt ein kraftvolles Bild eines inneren Kampfes zwischen Sehnsucht, Verlust und der Flucht vor den eigenen Dämonen dar. Die Eröffnung mit der Zeile „O, ich wollte in den Tag gehen“ weist auf den Wunsch des lyrischen Ichs hin, das Leben in vollen Zügen zu erleben, die „Sonnen“ und „Glutspiele“ zu fassen und die Welt mit einem Gefühl der Begeisterung und Energie zu durchdringen. Doch diese Sehnsucht nach Jubel führt zu einer gewissen Selbstzerstörung: „muss in trunkner Lenzluft untergehn / tief in meinem Rätselblut.“ Die Metapher des „Rätselblutes“ deutet auf eine tiefe, innere Verwirrung und die Unfähigkeit hin, die eigenen Wünsche und Begierden zu kontrollieren.
Der Sprecher scheint in einem Zustand des Verlusts und der Erschöpfung gefangen zu sein, wie die „müde Welle“, die „hin gleitet“, was die Unfähigkeit darstellt, die Lebenskraft oder den „Goldsinn des Himmels“ zu spüren. Die „sterbende Libelle“ symbolisiert die Zerbrechlichkeit der Sehnsucht und den langsamen Verfall der Träume, die zuvor so lebendig schienen. Der Ton des Gedichts ist von einem schmerzhaften Bewusstsein geprägt, dass das einst so lebendige Leben in eine Art Desillusionierung übergeht, in der die „Sehnsucht taumelt“ und nicht mehr die gleiche Erfüllung findet.
Der Übergang zu den kommenden Zeilen mit der Aufforderung „Gieße Brand in mein Leben!“ zeigt den Wunsch des Sprechers nach radikaler Veränderung, einem „Brand“, der das Leben mit Leidenschaft, aber auch mit Zerstörung füllen soll. Die Vorstellung, „durch alle Gassen“ zu streifen und „mit hungernden Hunden“ zu irren, spiegelt die innere Unruhe und das Verlangen wider, sich zu entfalten und zu leben, ohne sich von moralischen oder gesellschaftlichen Normen zurückhalten zu lassen. Der „Wahnsinn“ wird als eine Form der Freiheit und Rebellion gegen die Begrenzungen des Lebens dargestellt, wobei die „sünd’gen Launen“ und „Frevel“ zu einem Akt der Befreiung werden.
Das Gedicht schließt mit einer düsteren und selbstzerstörerischen Vision. Die „schwarze Stunde“ und das „Graben“ des Kopfes in die Erde verdeutlichen eine tiefe Angst vor dem eigenen Untergang und der endgültigen Zerstörung. Der Sprecher scheint vor den Konsequenzen seines inneren Chaos zu fürchten, während die „irrsinnigen Gedanken“ und „bunten, grellen Abendlichter“ die Wahrnehmung verzerren und das Gefühl der Orientierungslosigkeit verstärken. Das Gedicht endet mit einer schmerzlichen Erkenntnis der Ohnmacht und dem Bedürfnis, sich der eigenen Existenz zu entziehen. Es spiegelt eine existenzielle Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben und den unerfüllbaren Sehnsüchten wider.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.