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Vom Staatskalender

Von

1

Die Tochter spricht:

»Ach, die kleine Kaufmannstochter,
Wie das Ding sich immer putzt!
Fehlt nur, daß mit unsereinem
Sie sich noch vertraulich duzt.

Setzt sich, wo wir auch erscheinen,
Wie von selber nebenbei;
Präsidentens könnten meinen,
Daß es heiße Freundschaft sei.

Und es will sich doch nicht schicken,
Daß man so mit jeder geht,
Seit Papa im Staatskalender
In der dritten Klasse steht.

Hat Mama doch auch den Diensten
Anbefohlen klar und hell,
Fräulein hießen wir jetzunder,
Fräulein, und nicht mehr Mamsell.

Ach, ein kleines bißchen adlig,
So ein bißchen – glaub, wir sind′s!
Morgen in der goldnen Kutsche
Holt uns ein verwünschter Prinz!«

2

Ein Golem

Ihr sagt, es sei ein Kämmerer,
Ein schöner Staatskalenderer;
Doch sieht denn nicht ein jeder,
Daß er genäht aus Leder?

Kommt nur der rechte Regentropf
Und wäscht die Nummer ihm vom Kopf,
So ruft gewiß ein jeder:
Herrgott, ein Kerl von Leder!

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Gedicht: Vom Staatskalender von Theodor Storm

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Vom Staatskalender“ von Theodor Storm ist eine pointierte Gesellschaftssatire, die sich mit sozialer Aufsteigermentalität, Eitelkeit und Scheinheiligkeit im bürgerlichen Milieu des 19. Jahrhunderts auseinandersetzt. Der erste Teil des Gedichts offenbart die Perspektive der Tochter, die sich über die vermeintlich unangebrachte Vertraulichkeit der Kaufmannstochter ärgert, die sich nach ihrem Empfinden an sie heranschmeißt. Die Tochter fühlt sich durch den neuen gesellschaftlichen Status ihres Vaters in der dritten Klasse des Staatskalenders – eine Position, die für sie Aufstieg und Ansehen bedeutet – überlegen und distanziert sich von den vermeintlich niedrigeren Gesellschaftsschichten. Ihre veränderte Wahrnehmung wird durch die Forderung nach einer neuen Anrede („Fräulein“ statt „Mamsell“) und die naive Hoffnung auf einen Prinzen als Heiratspartner, symbolisiert, die ihren sozialen Aufstieg krönen soll.

Storms Ironie zeigt sich in den übersteigerten Ansprüchen der Tochter. Sie idealisiert den Adel und erhofft sich einen schnellen sozialen Aufstieg, ohne die eigentlichen Werte zu hinterfragen. Die Wiederholung von „Ach“ und die übertriebene Betonung der veränderten Etikette zeigen die Oberflächlichkeit und das Selbstverständnis, das mit dem neuen Status einhergeht. Die Sehnsucht nach dem Prinzen und der goldenen Kutsche ist ein Zeichen für ihre naive Vorstellung von Glück und sozialer Anerkennung.

Der zweite Teil des Gedichts, der als „Golem“ bezeichnet wird, wechselt die Perspektive und präsentiert eine gegensätzliche Sichtweise auf das Ganze. Der „Kämmerer“, der sich als „schöner Staatskalenderer“ ausgibt, wird als Marionette aus Leder entlarvt. Dies ist eine Metapher für die Hohlheit und Künstlichkeit der durch den Staatskalender erworbenen Positionen und des Status, der auf äußeren Merkmalen und dem Ansehen basiert. Der „Regentropf“ steht für eine kritische Prüfung, die die Fassade der neuen bürgerlichen Elite entlarvt und die Scheinheiligkeit und Künstlichkeit bloßlegt.

Storms Gedicht ist eine scharfe Kritik an der sozialen Mobilität und den damit verbundenen Verhaltensweisen. Er zeigt die Verblendung durch gesellschaftlichen Aufstieg und die oberflächliche Orientierung an Äußerlichkeiten auf. Die Verwendung von Ironie und Sarkasmus, kombiniert mit einer klaren, einfachen Sprache, macht das Gedicht zu einer zeitlosen Satire auf menschliche Eitelkeit, soziale Ambitionen und die Fragwürdigkeit gesellschaftlicher Konventionen. Storm entlarvt die Maskerade und fordert seine Leser*innen auf, hinter die Fassade zu blicken und die wahren Werte zu erkennen.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.