Im Volkston
1
Als ich dich kaum gesehn,
Mußt es mein Herz gestehn,
Ich könnt dir nimmermehr
Vorübergehn.
Fällt nun der Sternenschein
Nachts in mein Kämmerlien,
Lieg ich und schlafe nicht
Und denke dein.
Ist doch die Seele mein
So ganz geworden dein,
Zittert in deiner Hand,
Tu ihr kein Leid!
2
Einen Brief soll ich schreiben
Meinem Schatz in der Fern′;
Sie hat mich gebeten,
Sie hätt′s gar zu gern.
Da lauf ich zum Krämer,
Kauf Tint′ und Papier
Und schneid mir ein′ Feder,
Und sitz nun dahier.
Als wir noch mitsammen
Uns lustig gemacht,
Da haben wir nimmer
Ans Schreiben gedacht.
Was hilf mir nun Feder
Und Tint′ und Papier!
Du weißt, die Gedanken
Sind allzeit bei dir.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Im Volkston“ von Theodor Storm ist eine einfühlsame Darstellung der Liebe und Sehnsucht, die sich in zwei Teilen entfaltet. Der erste Teil beschreibt die überwältigende Erfahrung der Liebe, die sich bereits beim ersten Blick in das Herz des lyrischen Ichs festgesetzt hat. Die einfache, volkstümliche Sprache verstärkt den direkten und ehrlichen Ausdruck der Gefühle. Der Sternenschein und das Kämmerlein schaffen eine intime Atmosphäre, in der die Gedanken des lyrischen Ichs ausschließlich der geliebten Person gelten. Die Zeilen „Ist doch die Seele mein / So ganz geworden dein, / Zittert in deiner Hand, / Tu ihr kein Leid!“ offenbaren die tiefe Verwundbarkeit und das Vertrauen, das in der Liebe entsteht.
Der zweite Teil des Gedichts, der eine scheinbar prosaische Situation, das Briefeschreiben, thematisiert, zeigt die praktische Auswirkung der Sehnsucht und des Fernwehs. Die Beschreibung des Schreibens – der Gang zum Krämer, der Kauf von Tinte und Papier, das Anspitzen der Feder – erzeugt eine humorvolle Distanzierung vom romantischen Pathos des ersten Teils. Doch die eigentliche Botschaft liegt in der Erkenntnis, dass die Gedanken des lyrischen Ichs, trotz aller Bemühungen, an die geliebte Person gebunden sind.
Der Kontrast zwischen den beiden Teilen ist bemerkenswert. Der erste Teil ist von direkter, leidenschaftlicher Gefühlswelt geprägt, während der zweite Teil die Unmöglichkeit des Ausdrucks der Liebe in der Abwesenheit der geliebten Person betont. Das lyrische Ich scheitert am Versuch, die Gefühle in Worte zu fassen, da die Gedanken immer wieder zur geliebten Person schweifen. Die Feder, die Tinte und das Papier verlieren ihre Bedeutung, da die eigentliche Kommunikation durch die Anwesenheit im Herzen stattfindet.
Storm gelingt es mit „Im Volkston“, ein einfühlsames Bild der Liebe zu zeichnen, das sowohl die Intensität des Gefühls als auch die Sehnsucht nach der geliebten Person widerspiegelt. Der schlichte Ton, die Verwendung von volkstümlichen Elementen und die ehrliche Direktheit der Sprache machen das Gedicht zu einem zeitlosen Ausdruck menschlicher Emotionen. Es zeigt, wie Liebe und Sehnsucht die Gedanken und das Handeln des Menschen beeinflussen und wie die Abwesenheit der geliebten Person die Alltagssituationen prägt.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.