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Mutter

Von

Ein weißer Stern singt ein Totenlied
in der Julinacht.
Wie Sterbegeläut in der Julinacht.
Und auf dem Dach die Wolkenhand,
die streifende feuchte Schattenhand
sucht nach meiner Mutter.

Ich fühle mein nacktes Leben,
es stößt sich ab vom Mutterland,
so nackt war nie mein Leben,
so in die Zeit gegeben,
als ob ich abgeblüht
hinter des Tages Ende
zwischen weiten Nächten stände;
alleine.

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Gedicht: Mutter von Else Lasker-Schüler

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Mutter“ von Else Lasker-Schüler ist ein tieftrauriges, existenzielles Lamento über den Verlust der Mutter und den damit verbundenen Zerfall von Geborgenheit, Ursprung und Sinn. Die nächtliche Szenerie, in der ein „weißer Stern“ ein „Totenlied“ singt, evoziert eine stille, fast sakrale Atmosphäre des Abschieds und der Trauer. Schon die ersten Zeilen lassen spüren, dass der Tod der Mutter nicht nur eine biografische Zäsur ist, sondern eine seelische Erschütterung, die das Ich in seinen Grundfesten trifft.

Das Bild der „Wolkenhand“ auf dem Dach, die „nach meiner Mutter“ sucht, verleiht dem Gedicht eine geisterhafte, suchende Bewegung. Es ist, als ob selbst der Himmel noch nach ihr greift, als ob die Natur selbst den Verlust nicht begreifen kann. Diese Geste spiegelt die innere Sehnsucht des lyrischen Ichs wider, das die Nähe der Mutter vermisst und in der Welt vergeblich nach ihr tastet.

Zentral ist die Empfindung des „nackten Lebens“ – eine Metapher für die schutzlose, entblößte Existenz ohne den mütterlichen Halt. Das „Mutterland“ steht dabei nicht nur für eine geografische Herkunft, sondern für einen geistig-emotionalen Ursprungsort, von dem das Ich sich nun „abstößt“. Der Verlust hat einen existenziellen Riss hinterlassen: Es fühlt sich „in die Zeit gegeben“, völlig ungeschützt und fremd in einer unbarmherzigen Welt.

Die letzten Zeilen betonen dieses Gefühl der Verlorenheit noch weiter. Das lyrische Ich steht „zwischen weiten Nächten“, im Zwischenraum von Leben und Tod, von Vergangenheit und Zukunft, und erkennt sich als „abgeblüht“ – eine Pflanze, deren Blütezeit vorbei ist. Die Einsamkeit wird hier nicht nur als seelischer Zustand beschrieben, sondern als Zustand des Seins selbst.

„Mutter“ ist somit ein leises, aber eindringliches Gedicht über den fundamentalen Verlust von Heimat und Geborgenheit. Es zeigt, wie tiefgreifend der Tod der Mutter die Identität des lyrischen Ichs erschüttert, das sich fortan allein, heimatlos und existenziell entwurzelt fühlt.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.