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Erinnerung und Phantasie

Von

Warum ergießt sich nur der Schwermut Schauer
aus deiner Schale mir, Erinnerung?
Warum bewölkt der Sehnsucht stille Trauer
der Seele Blick mit trüber Dämmerung?

Sie flattert ängstlich mit gelähmten Flügel
um Blüten der Vergangenheit, enteilt
auf ewig, wie bei seinem Grabeshügel
ein armer unversöhnter Schatten weilt.

Und wie nach Edens seligen Gefilden
zu späte Reu‘ mit nassem Blicke dringt,
schaut sie zurück nach luftigen Gebilden,
die keine Hoffnung je ihr wiederbringt.

Ist dies dein Glück, o du, im Mondenglanze,
Erinnerung? dies deine Seligkeit?
O, fleuch von mir mit deinem welken Kranze,
und überlaß mich der Vergangenheit.

Entführe du auf deinen muntern Schwingen,
o Phantasie, mich diesem finstern Harm!
Schon fühl‘ ich Kraft durch jeden Nerven dringen,
und fliehe leichter aus der Schwermut Arm.

Du, Göttliche, du schwelgst im Wesenkranze,
nicht ängstlich an die Gegenwart gebannt,
entzückt umher; dir strahlt im Sonnenglanze
die Unermeßlichkeit, dein Vaterland.

Der armen Notdurft kärglichem Gebiete
entschwingst du, Allumfassende, dich kühn,
und stürzest dich, berauscht vom Sphärenliede,
ins Flammenmeer der Ideale hin.

Dich fesselt nicht das ird’sche Maß der Zeiten,
des Raumes nicht; mit Himmlischen verwandt,
genießest du im Reich der Möglichkeiten
ein Glück, das keine Wirklichkeit umspannt.

Vergebens hüllt ein unauflösbar Siegel
den Sterblichen die ferne Zukunft ein;
zurückgestrahlt aus deinem Zauberspiegel,
geht sie hervor in schönem Dämmerschein.

Als Mitgenossin teilest du die Schätze,
die tief im Schoß der fernen Nachwelt blühn,
und lösest kühn der Endlichkeit Gesetze,
daß von Unsterblichkeit die Seelen glühn.

Beflügle mich! schon bricht aus schwarzer Hülle
der Hoffnung lichtes Morgenrot hervor.
Die Welt ist schön, und schön’re Lebensfülle
schäumt mir aus deinem Zauberkelch empor.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Erinnerung und Phantasie von Sophie Friederike Brentano

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Erinnerung und Phantasie“ von Sophie Friederike Brentano ist eine tiefgründige Auseinandersetzung mit den Kräften der menschlichen Psyche, die das Erleben von Vergangenheit und Zukunft prägen. Es offenbart eine Gegenüberstellung von Erinnerung und Phantasie, wobei die Autorin die negativen Aspekte der Erinnerung und die positiven, befreienden Eigenschaften der Phantasie hervorhebt. Das Gedicht ist durchdrungen von einer melancholischen Grundstimmung, die sich in den ersten Strophen durch die düsteren Bilder der Trauer und des Verlusts manifestiert.

Die ersten drei Strophen widmen sich der Erinnerung, die als Quelle von Schwermut und Trauer dargestellt wird. Brentano beschreibt die Erinnerung als eine Kraft, die die Seele mit „trüber Dämmerung“ umhüllt und sie in der Vergangenheit gefangen hält. Die Metaphern des „gelähmten Flügels“ und des „armen unversöhnten Schattens“ unterstreichen das Gefühl der Hilflosigkeit und des Festhaltens an Vergangenem. Die Erinnerung wird als eine Bürde dargestellt, die das Glück verhindert und die Sehnsucht nach Unerreichbarem schürt. Die Autorin verwendet Bilder wie „Grabeshügel“ und „luftige Gebilde“, um die Unfähigkeit zu betonen, aus der Vergangenheit zu entkommen.

Ab der fünften Strophe wechselt der Fokus zur Phantasie, die als Gegenpol zur Erinnerung ins Zentrum rückt. Die Phantasie wird als eine befreiende und lebensspendende Kraft dargestellt, die den Leser aus dem Gefängnis der Vergangenheit entführt. Sie wird als „Göttliche“ bezeichnet, die sich über die Grenzen der Realität hinwegsetzt und Zugang zu einer Welt der Möglichkeiten eröffnet. Die Phantasie ermöglicht es, die „ird’schen Maß der Zeiten“ zu überwinden und in ein Reich der Unsterblichkeit einzutauchen. Die Autorin beschreibt die Phantasie als Quelle von Kraft und Hoffnung, die den Blick auf eine „schön’re Lebensfülle“ lenkt.

Das Gedicht endet mit einem Aufruf an die Phantasie, die „schwarze Hülle“ der Hoffnungslosigkeit zu durchbrechen und das „lichte Morgenrot“ der Zukunft heraufzubeschwören. Brentano wählt eine eher romantische, bildreiche Sprache mit vielen Metaphern und Vergleichen, um die unterschiedlichen Kräfte von Erinnerung und Phantasie zu veranschaulichen. Durch die Gegenüberstellung dieser beiden Kräfte entsteht eine tiefgründige Reflexion über die menschliche Seele und ihre Beziehung zur Vergangenheit und Zukunft. Das Gedicht plädiert für die Befreiung von den Fesseln der Erinnerung und die Hinwendung zur Phantasie als Weg zu Glück, Hoffnung und unendlichen Möglichkeiten.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.