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Der gefallene Engel

Von

St. Petrus
Hille
zu eigen

Des Nazareners Lächeln strahlt aus deinen Mienen,
und meine Lippen öffnen sich mit Zagen,
wie gift’ge Blüten, die dem Satan dienen
und scheu den Lenzwind nach dem Himmel fragen.
Die heiße Sehnsucht hat mich tief gebräunt,
in kühler Not erstarrte meine Seele,
ein Wetter stählte mein Gewissen!

Es wachsen Sträucher blütenlos auf meinen Wegen
wie Schatten, die verbotene Taten werfen,
und meine Träume tränkt ein blut’ger Regen
und reizt mit seinem Schein zum Laster meine Nerven.
Die Unschuld hat an meinem Bett geweint,
und rang und klagte dann um meine Seele
und pflanzte Trauerrosen um mein Kissen.

Siehst Du den Kettenring an meinem Finger –
sein Stein erblindete, sein blaues Scheinen,
vielleicht verlor ihn mal ein Gottesjünger
auf seinem Pfade hoch in Felsgesteinen.
Und diese roten, feurigen Granaten
gab mir ein Königgreis für meine Nächte,
wie heiße Tropfen auf die Schnur gereiht.

Der Sonnenuntergang erzählt im Westen
von späten Rosen, die ergrauen müssen
im Herbste unter morschem Laub und Ästen,
und nichts vom Sonnenglanz des Sommers wissen,
als Sünderinnen sterben für die Taten
der eitelen Natur, die duften möchte
noch in der späten Winterabendzeit.

Darf ich mit Dir auf weiten Höhen schreiten!
Hand in Hand, Du und ich, wie Kinder…
Wenn aus dem Abendhimmel wilde Sterne gleiten
durchs tiefe Blauschwarz, wie verstoss’ne Sünder,
und scheu in Gärten fallen, die voll Orchideen
und stummen Blüten stehn
in gold’nen Hüllen.

Und in den Kronen schlanker Märchenbäume
harrt meine Unschuld unter Wolkenflor,
und meine ersten, holden Kinderträume
erwachen vor dem gold’nen Himmelstor.
Und wenn wir einst ins Land des Schweigens gehen,
der schönste Engel wird mein Heil erflehn
um Deiner Liebe willen.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Der gefallene Engel von Else Lasker-Schüler

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der gefallene Engel“ von Else Lasker-Schüler ist eine tief emotionale, mystisch aufgeladene Auseinandersetzung mit Schuld, Sehnsucht und der Hoffnung auf Erlösung. In einer bildreichen, klangsatten Sprache verwebt die Dichterin religiöse Symbolik, erotische Spannung und persönliche Sehnsüchte zu einem eindringlichen lyrischen Selbstbekenntnis. Der „gefallene Engel“ erscheint dabei als Figur zwischen Licht und Dunkel, zwischen Schuldgefühl und dem Streben nach göttlicher Nähe.

Das lyrische Ich stellt sich selbst als eine von der „heißen Sehnsucht“ gezeichnete Gestalt dar, deren Seele „in kühler Not erstarrte“. Es sieht in sich selbst eine sündhafte, fast satanisch verführte Existenz, deren Schönheit giftig ist, deren Wege blütenlos und schattendurchzogen sind. Der innere Konflikt zwischen Schuld und Unschuld, zwischen sündiger Leidenschaft und dem Wunsch nach spiritueller Reinheit, zieht sich durch alle Strophen. Diese Gegensätze spiegeln sich in der Naturmetaphorik – von blutigen Regenbildern bis hin zu verwelkenden Rosen – wider und verleihen dem Gedicht eine melancholische Grundstimmung.

Religiöse Motive durchziehen das Gedicht in dichter Folge. Der Nazarener, St. Petrus, der verlorene „Gottesjünger“, der „Engel“ – sie alle erscheinen als Spiegel oder Kontrastfiguren zum Ich. Der Kettenring mit erblindetem Stein ist dabei ein besonders eindrückliches Symbol: Er steht für eine verlorene Verbindung zum Göttlichen, vielleicht auch für einen zerbrochenen Bund oder einen gefallenen Engel. Gleichzeitig zeigen die Granatensteine, die „wie heiße Tropfen“ aufgereiht sind, eine Nähe zur Sinnlichkeit und zum Nachtleben, das als Verführungskraft imaginiert wird.

In den späteren Strophen wechselt die Stimmung zu einem zarten, fast kindlichen Wunsch nach Erlösung. Die Vision vom gemeinsamen Gang „auf weiten Höhen“, die Vorstellung von Orchideengärten und „Märchenbäumen“, in deren Kronen die Unschuld wartet, eröffnet einen utopischen Raum jenseits von Schuld und Verlorenheit. Die Sterne, die „wie verstoßene Sünder“ fallen, spiegeln das eigene Schicksal und doch auch die Hoffnung, dass selbst Gefallene noch Liebe, noch Licht erfahren können.

Der Schluss bietet schließlich eine beinahe tröstliche Aussicht: Im „Land des Schweigens“ wird der schönste Engel um Heil bitten – nicht um der eigenen Läuterung willen, sondern „um Deiner Liebe willen“. Damit schließt das Gedicht mit einer zärtlichen Wendung, die zeigt, dass Liebe – trotz aller Verfehlung, trotz aller inneren Dunkelheit – als letzte rettende Kraft bestehen bleibt. Langgässers dichter Ton vereint hier Weltschmerz, religiöse Bildsprache und die Tiefe weiblicher Empfindung zu einem einzigartigen Ausdruck existenzieller Sehnsucht.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.