Chaos
St. Petrus
Hille
zu eigen
Die Sterne fliehen schreckensbleich
vom Himmel meiner Einsamkeit,
und das schwarze Auge der Mitternacht
starrt näher und näher.
Ich finde mich nicht wieder
in dieser Todverlassenheit!
Mir ist: ich lieg‘ von mir weltenweit
zwischen grauer Nacht der Urangst.
Ich wollte, ein Schmerzen rege sich
und stürze mich grausam nieder
und riss mich jäh an mich!
Und es lege eine Schöpferlust
mich wieder in meine Heimat
unter der Mutterbrust.
Meine Mutterheimat ist seeleleer,
es blühen dort keine Rosen
im warmen Odem mehr. –
…. Möcht einen Herzallerliebsten haben
und mich in seinem Fleisch vergraben.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Chaos“ von Else Lasker-Schüler ist eine eindringliche lyrische Klage über existenzielle Verlorenheit, die Entfremdung von sich selbst und das tiefe Verlangen nach Rückkehr zu einem ursprünglichen, geborgenen Zustand. In schlichter, aber emotional aufgeladener Sprache entfaltet die Dichterin ein Bild völliger innerer Leere und Isolation, das von kosmischen und mythischen Motiven gerahmt wird.
Die ersten Verse beschreiben eine kosmische Flucht: Die „Sterne fliehen schreckensbleich“ vom Himmel – ein eindrucksvolles Bild für den Zusammenbruch des inneren Ordnungsgefüges. Die Einsamkeit des lyrischen Ichs ist so allumfassend, dass selbst das Weltall erschrickt und sich abwendet. Die „Mitternacht“ – traditionell als Stunde des tiefsten Dunkels und der Angst verstanden – wird hier zu einem bedrohlichen, starrenden Auge, das sich unaufhaltsam nähert. Der Kosmos verliert seine tröstliche Weite und wird zum Ausdruck innerer Bedrohung.
In den folgenden Strophen steigert sich das Gefühl der Ich-Entfremdung: Das lyrische Ich „findet sich nicht wieder“, liegt „weltenweit“ von sich entfernt – eine radikale Form der Selbstentfremdung, die in der „grauen Nacht der Urangst“ ihren Ursprung findet. Es ist nicht nur Einsamkeit, sondern eine fast vorgeburtliche Leere, ein Abgrund jenseits aller emotionalen oder geistigen Verbindung.
Gegen diese Leere richtet sich ein verzweifelter Wunsch nach einer rettenden, sogar schmerzhaften Wiedererweckung: Das Ich sehnt sich danach, durch Schmerz wieder „an sich“ gerissen zu werden, als ob nur ein extremer Impuls die innere Starre durchbrechen könnte. Diese Sehnsucht verbindet sich mit der Hoffnung auf eine „Schöpferlust“, die es neu gebären könnte – ein poetischer Wunsch nach Rückkehr in die Geborgenheit der „Mutterheimat“, unter der „Mutterbrust“. Doch selbst dieser Zufluchtsort ist entleert: „seeleleer“, ohne Rosen, ohne Wärme – die traditionelle Metapher für Liebe und Leben ist hier ebenfalls erstorben.
Das Gedicht endet in einer provokativen, fast tabubrechenden Wendung: Der Wunsch, sich im Fleisch eines „Herzallerliebsten“ zu vergraben, ist ein letzter verzweifelter Versuch, durch körperliche Nähe das verlorene Sein zu retten. Es ist ein tiefes Bedürfnis nach Verschmelzung, nach Liebe als existentielle Rettung, als Rückbindung an das Leben. Damit offenbart sich „Chaos“ als ein Gedicht über existentielle Leere, Verzweiflung – und doch auch über das ungebrochene Verlangen nach Verbindung, Geborgenheit und Wiedergeburt.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.