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Gott im Mittelalter

Von

Und sie hatten Ihn in sich erspart
und sie wollten, daß er sei und richte,
und sie hängten schließlich wie Gewichte
(zu verhindern seine Himmelfahrt)

an ihn ihrer großen Kathedralen
Last und Masse. Und er sollte nur
über seine grenzenlosen Zahlen
zeigend kreisen und wie eine Uhr

Zeichen geben ihrem Tun und Tagwerk.
Aber plötzlich kam er ganz in Gang,
und die Leute der entsetzten Stadt

ließen ihn, vor seiner Stimme bang,
weitergehn mit ausgehängtem Schlagwerk
und entflohn vor seinem Zifferblatt.

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Gedicht: Gott im Mittelalter von Rainer Maria Rilke

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Gott im Mittelalter“ von Rainer Maria Rilke wirft einen kritischen Blick auf die Rolle Gottes im Mittelalter, indem es die Entfremdung und Manipulation des Göttlichen durch die menschliche Gesellschaft thematisiert. Das Gedicht beginnt mit der Beschreibung, wie die Menschen Gott in sich „erspart“ und ihn als Instanz der Ordnung und des Richtens instrumentalisierten. Sie wollten, dass er existiert und ihre Handlungen lenkt, indem sie ihn in die gewaltigen Strukturen ihrer Kathedralen einspannten, um seine „Himmelfahrt“ zu verhindern.

Die Metapher der Kathedralen als „Last und Masse“ verdeutlicht, wie Gott in den starren und oft weltlichen Strukturen des Mittelalters gefangen gehalten wurde. Er sollte lediglich seine „grenzenlosen Zahlen“ zeigen, also die göttliche Ordnung symbolisieren und als Taktgeber für das menschliche Tagwerk dienen. Die Analogie zur Uhr unterstreicht die Vorstellung, dass Gott zu einem mechanischen, vorhersehbaren Instrument degradiert wurde, das die Zeit vorgibt, aber nicht mehr frei agieren kann.

Die überraschende Wendung im Gedicht kommt mit dem Satz „Aber plötzlich kam er ganz in Gang.“ Hier wird angedeutet, dass Gott sich von seiner Gefangenschaft befreit und seinen eigenen Willen auslebt. Diese „Gottesbewegung“ versetzt die Menschen in Angst und Schrecken, was dazu führt, dass sie vor seiner Stimme „bang“ fliehen. Die Bildsprache der „ausgehängten Schlagwerke“ und des „Zifferblatts“ verstärkt den Eindruck, dass Gott sich aus der menschlichen Kontrolle befreit hat und nun wieder frei und unberechenbar ist.

Das Gedicht endet mit der Flucht der Menschen, die von der Freiheit Gottes überwältigt sind. Dies kann als Kritik an der menschlichen Tendenz interpretiert werden, das Göttliche zu domestizieren und es den eigenen Bedürfnissen anzupassen, anstatt sich ihm in Demut und Ehrfurcht zu nähern. Rilke suggeriert, dass die wahre Beziehung zu Gott in der Freiheit und Unvorhersehbarkeit liegt, nicht in der Kontrolle und Instrumentalisierung. Das Gedicht ist eine Mahnung, die wahre Natur des Göttlichen zu respektieren und sich nicht von den eigenen Ängsten und Kontrollbedürfnissen leiten zu lassen.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.