Eranna an Sappho
O du wilde weite Werferin:
Wie ein Speer bei andern Dingen
lag ich bei den Meinen. Dein Erklingen
warf mich weit. Ich weiß nicht, wo ich bin.
Mich kann keiner wiederbringen.
Meine Schwestern denken mich und weben,
und das Haus ist voll vertrauter Schritte.
Ich allein bin fern und fortgegeben,
und ich zittere wie eine Bitte;
denn die schöne Göttin in der Mitte
ihrer Mythen glüht und lebt mein Leben.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Eranna an Sappho“ von Rainer Maria Rilke ist ein eindringlicher Monolog, der die Erfahrung der Sehnsucht und der Identitätsverlustes einer jungen Frau, Eranna, in Bezug auf die Dichterin Sappho thematisiert. Es ist ein Ausbruch der Bewunderung und des Schmerzes, eine Klage über das Zerbrochene und die Unmöglichkeit der Rückkehr.
In der ersten Strophe beschreibt Eranna ihren Zustand als einen der Zerrissenheit und des Fernseins. Sie war „wie ein Speer bei andern Dingen“ in ihrem gewohnten Leben, bevor Sapphos Dichtung sie „weit“ warf. Diese Metapher verdeutlicht, wie die Kunst der Sappho sie aus ihrer vertrauten Umgebung entriss und sie in einen Zustand der Orientierungslosigkeit stürzte. „Ich weiß nicht, wo ich bin“ unterstreicht dieses Gefühl der Verlorenheit. Die Wiederholung der Unmöglichkeit, zurückgebracht zu werden, betont die irreversible Natur ihrer Transformation.
Die zweite Strophe beleuchtet das Kontrastverhältnis zwischen Erannas gegenwärtigem Zustand und der Welt, die sie verlassen hat. Während ihre Schwestern ihr Leben ohne sie fortsetzen, sie weben und die vertrauten Geräusche des Hauses erklingen, fühlt sie sich fern und „fortgegeben“. Das Wort „fortgegeben“ deutet darauf hin, dass Eranna nicht nur physisch abwesend ist, sondern auch einen Teil ihrer Identität an Sappho und ihre Kunst verloren hat. Ihre „Bitte“, die sie zittert, könnte als ein Flehen nach Verständnis und Akzeptanz, aber auch als eine Verzweiflung über die Unmöglichkeit der Rückkehr in ihr früheres Leben interpretiert werden.
Das Gedicht findet seinen Höhepunkt in der letzten Zeile, in der die „schöne Göttin in der Mitte“ von Erannas Leben ist, die hier als Verkörperung von Sappho und ihrer Kunst fungiert. „Glüht“ und „lebt mein Leben“ offenbaren die tiefe Verehrung und die radikale Veränderung, die Sapphos Dichtung bei Eranna hervorgerufen hat. Eranna hat sich so sehr von der Kunst der Sappho ergriffen lassen, dass ihr eigenes Leben in der Faszination der anderen aufgeht. Es ist ein Gedicht über die transformierende Kraft der Kunst, die aber auch mit einem Gefühl der Isolation und des Verlustes verbunden ist.
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Lizenz und Verwendung
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