Im Lauf des Lebens
Oft muss ich denken: Wie mein Haar ergraut!
Sind denn noch immer blühend meine Wangen?
Wie wenn ein Wanderer nach rückwärts schaut
Und zu sich spricht: Wie bin ich weit gegangen!
Dann drängt inbrünstiger noch mein Gefühl
Sich zu dem Heute, das noch nicht entschwebte,
Und der Vergangenheit enttaucht so kühl,
Was ehedem so schmerzlich ich durchlebte.
So kommt ein Freund, den du verlorst, vielleicht
Von ungefähr dir übern Weg nach Jahren,
Und während fragend man die Hand sich reicht,
Schweigt man von allem doch, was man erfahren.
Die Augen nicken sich wohl grüssend zu,
Wie voll Bedauern, aus gesenkten Lidern;
Das Herz spricht unvernehmlich: Bist es du?
Und fühlt sich fremd und weiss nichts zu erwidern.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Im Lauf des Lebens“ von Hedwig Lachmann behandelt die Themen der Zeit, der Veränderung und der Entfremdung im Verlauf des Lebens. Die ersten Zeilen zeichnen ein Bild von der Alterung der Sprecherin, die sich fragt, ob ihre äußeren Merkmale wie ihr Haar und ihre Wangen noch die Frische der Jugend besitzen. Diese Reflexion über den eigenen Körper symbolisiert den Blick zurück auf vergangene Jahre, wie der eines Wanderers, der sich fragt, wie weit er gekommen ist. Der Vergleich mit einem Wanderer, der „nach rückwärts schaut“, verweist auf die Unausweichlichkeit der Zeit und auf das Nachdenken über das Erreichte und Vergangene.
Im weiteren Verlauf des Gedichts wird die Bewegung von der Vergangenheit in die Gegenwart thematisiert. Der Drang des Gefühls, sich immer noch dem „Heute“ zuzuwenden, ist stark, obwohl das „Gestern“ bereits entflohen ist. Die Zeilen „Und der Vergangenheit enttaucht so kühl“ verdeutlichen, dass die Erinnerung an vergangene Ereignisse nicht nur durch Zeit, sondern auch durch die emotional kühle Distanz der Jahre verändert wird. Was einst schmerzlich war, erscheint nun aus der Perspektive der Gegenwart vielleicht weniger belastend, jedoch auch nicht mehr so lebendig und intensiv.
Ein zentrales Motiv des Gedichts ist die zufällige Begegnung mit einem alten Freund, der einem Jahre nach der Trennung über den Weg läuft. Die Darstellung dieser Begegnung ist von einer gewissen Unausgesprochenheit und Fremdheit geprägt. Trotz des äußeren Grußes bleibt die eigentliche Verbindung zwischen den beiden verschwunden, was durch das Schweigen über „alles, was man erfahren“ wird. Diese Szene spiegelt die Entfremdung wider, die durch die Zeit und das Leben selbst verursacht wird.
In den letzten Zeilen wird der innere Konflikt noch deutlicher: Das Herz fühlt sich fremd und weiß nicht mehr, wie es auf den alten Freund reagieren soll. Der Blick „aus gesenkten Lidern“ und das „nicken“ symbolisieren das Wissen, dass eine Verbindung einst existierte, aber der tiefe Austausch und das Verständnis füreinander verloren gegangen sind. Es bleibt ein bittersüßes Gefühl der Bedauern, der Einsicht, dass die Vergangenheit nicht einfach wiederhergestellt werden kann, sondern sich der Moment als fremd und unnahbar erweist.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.