Die Liebende (2)
Ja ich sehne mich nach dir. Ich gleite
mich verlierend selbst mir aus der Hand,
ohne Hoffnung, daß ich Das bestreite,
was zu mir kommt wie aus deiner Seite
ernst und unbeirrt und unverwandt.
…jene Zeiten: O wie war ich Eines,
nichts was rief und nichts was mich verriet;
meine Stille war wie eines Steines,
über den der Bach sein Murmeln zieht.
Aber jetzt in diesen Frühlingswochen
hat mich etwas langsam abgebrochen
von dem unbewußten dunkeln Jahr.
Etwas hat mein armes warmes Leben
irgendeinem in die Hand gegeben,
der nicht weiß was ich noch gestern war.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Die Liebende (2)“ von Rainer Maria Rilke ist ein ergreifender Ausdruck der Sehnsucht und der tiefgreifenden Veränderung, die die Liebe im Leben einer Frau bewirkt. Es offenbart einen Zustand des Verliebtseins, der von einer tiefen Hingabe und dem Verlust der eigenen Kontrolle geprägt ist. Die erste Strophe zeichnet das Bild einer Frau, die sich ihrem Geliebten vollständig hingibt, sich selbst „verlierend“ und ohne den Wunsch, dem zu widerstehen, was von ihm ausgeht. Diese Hingabe wird als etwas „Ernstes“, „Unbeirrtes“ und „Unverwandtes“ beschrieben, was die Unaufhaltsamkeit und die Tiefe der Gefühle unterstreicht.
Die zweite Strophe kontrastiert den gegenwärtigen Zustand mit einer vergangenen Zeit der inneren Ruhe und Unberührtheit. Die Metapher des „Steines“, über den das „Bach sein Murmeln zieht“, evoziert ein Bild von Stille, Unveränderlichkeit und Isolation. In dieser Zeit war die Frau ganz sie selbst, ungestört von äußeren Einflüssen und inneren Konflikten. Die Liebe hat diesen Zustand jedoch durchbrochen, und die Frau wird sich ihrer selbst und ihrer Vergangenheit bewusst, wodurch ein Gefühl des Verlustes und der Veränderung entsteht.
Die dritte Strophe beschreibt den Prozess des Wandels, der durch die Liebe ausgelöst wurde. Der Frühling dient hier als Metapher für den Neubeginn und die Erweckung der Gefühle. Etwas hat sie „langsam abgebrochen“ von ihrer früheren Existenz, und ihr Leben wird nun von der Liebe bestimmt und beeinflusst. Die Zeile „Etwas hat mein armes warmes Leben / irgendeinem in die Hand gegeben“ drückt die Ohnmacht und das Gefühl der Fremdbestimmung aus, die mit der Hingabe an einen anderen Menschen einhergehen können.
Insgesamt spiegelt das Gedicht die emotionale und psychologische Transformation wider, die mit der Liebe verbunden ist. Es ist eine Auseinandersetzung mit dem Verlust der eigenen Identität zugunsten der Hingabe an einen anderen Menschen. Rilke gelingt es, die Intensität der Sehnsucht, die Zerrissenheit zwischen Vergangenheit und Gegenwart und die Ambivalenz der Gefühle in einfachen, aber eindringlichen Worten auszudrücken. Das Gedicht ist ein Zeugnis der Macht der Liebe, die sowohl Zerstörung als auch Neuanfang in sich birgt.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.