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Die Kathedrale

Von

In jenen kleinen Städten, wo herum
die alten Häuser wie ein Jahrmarkt hocken
der sie bemerkt hat plötzlich und, erschrocken,
die Buden zumacht und, ganz zu und stumm,

die Schreier still, die Trommel angehalten,
zu ihr hinaufhorcht aufgeregten Ohrs -:
dieweil sie ruhig immer in dem alten
Faltenmantel ihrer Contreforts

dasteht und von den Häusern gar nicht weiß:
in jenen kleinen Städten kannst du sehn,
wie sehr entwachsen ihrem Umgangskreis
die Kathedralen waren. Ihr Erstehn

ging über alles fort, so wie den Blick
des eignen Lebens viel zu große Nähe
fortwährend übersteigt, und als geschähe
nichts anderes; als wäre Das Geschick,

was sich in ihnen aufhäuft ohne Maßen,
versteinert und zum Dauernden bestimmt,
nicht Das, was unten in den dunkeln Straßen
vom Zufall irgendwelche Namen nimmt

und darin geht, wie Kinder Grün und Rot
und was der Krämer hat als Schürze tragen.
Da war Geburt in diesen Unterlagen,
und Kraft und Andrang war in diesem Ragen
und Liebe überall wie Wein und Brot,
und die Portale voller Liebesklagen.
Das Leben zögerte im Stundenschlagen,
und in den Türmen, welche voll Entsagen
auf einmal nicht mehr stiegen, war der Tod.

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Gedicht: Die Kathedrale von Rainer Maria Rilke

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Kathedrale“ von Rainer Maria Rilke ist eine Reflexion über die Erhabenheit und Distanziertheit religiöser Kunst, dargestellt am Beispiel einer Kathedrale, die sich über die sie umgebende, profane Welt erhebt. Rilke zeichnet ein Bild, in dem die Kathedrale als ein überirdisches Wesen erscheint, das die hektische Betriebsamkeit und den kurzlebigen Trubel der Stadt nicht wahrnimmt. Die Metapher des Jahrmarktes und der Buden, die plötzlich verstummen, wenn die Kathedrale „entdeckt“ wird, verdeutlicht den Kontrast zwischen der Vergänglichkeit des weltlichen Lebens und der Ewigkeit der sakralen Architektur.

Die Kathedrale steht als Symbol für etwas, das sich der menschlichen Erfahrung entzieht und über sie hinausragt. Rilke betont die Diskrepanz zwischen dem, was sich in der Kathedrale ereignet – Geburt, Kraft, Liebe, Entsagung, Tod – und dem, was in den Straßen vor sich geht, wo „Zufall irgendwelche Namen nimmt“. Diese Gegenüberstellung unterstreicht die Trennung zwischen dem Heiligen und dem Profanen, zwischen dem Ewigen und dem Flüchtigem. Die Kathedrale wird so zu einem Ort, an dem das menschliche Leben in seiner Gesamtheit, in seinen Höhen und Tiefen, in Stein gemeißelt wird, während das Leben in der Stadt dem zufälligen Wandel unterworfen ist.

Rilke verwendet eine bildreiche Sprache, um die monumentale Präsenz der Kathedrale zu erfassen. Der „Faltenmantel ihrer Contreforts“ beschreibt die Fassade der Kathedrale als etwas Altes und Ehrwürdiges, das die Zeit überdauert hat. Die „Liebesklagen“ in den Portalen deuten auf die tiefe emotionale Resonanz hin, die diese Bauwerke in den Menschen hervorrufen. Das Gedicht spielt mit Gegensätzen: Leben und Tod, Geburt und Entsagung, zufällige Namen und ewige Bestimmung. Die Türme, die „auf einmal nicht mehr stiegen“, suggerieren eine Ambivalenz von Erhebung und Stillstand, von Transzendenz und Vergänglichkeit.

In der letzten Strophe verdichtet Rilke die Thematik. Die Kathedrale, die zunächst als überirdisch und distanziert beschrieben wurde, wird hier mit dem Leben selbst in Verbindung gebracht, mit Liebe, Geburt und Tod. Das Gedicht reflektiert die existenzielle Frage nach dem Sinn des Lebens und der Unvermeidlichkeit des Todes. Die Kathedrale wird zum Spiegelbild des menschlichen Schicksals, zum Ort der Erinnerung und der Hoffnung, der über die kurze Zeitspanne des individuellen Lebens hinausweist. Rilkes Gedicht lädt uns ein, über die Beziehung zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, dem Weltlichen und dem Göttlichen zu reflektieren.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.