Die Genesende
Wie ein Singen kommt und geht in Gassen
und sich nähert und sich wieder scheut,
flügelschlagend, manchmal fast zu fassen
und dann wieder weit hinausgestreut:
spielt mit der Genesenden das Leben;
während sie, geschwächt und ausgeruht,
unbeholfen, um sich hinzugeben,
eine ungewohnte Geste tut.
Und sie fühlt es beinah wie Verführung,
wenn die hart gewordne Hand, darin
Fieber waren voller Widersinn,
fernher, wie mit blühender Berührung,
zu liebkosen kommt ihr hartes Kinn.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Die Genesende“ von Rainer Maria Rilke beschreibt die fragile Erfahrung des Wiedererwachens nach einer Krankheit, den Prozess der Genesung und die subtilen Veränderungen, die damit einhergehen. Das Gedicht ist in zwei Strophen unterteilt, die zunächst die Unbestimmtheit und Unfassbarkeit des Lebens thematisieren, um dann zur intimen Auseinandersetzung mit der Genesenden überzugehen. Die einsetzende Genesung ist in diesem Gedicht nicht nur ein physischer Prozess, sondern ein zutiefst emotionaler und psychologischer.
Die erste Strophe beginnt mit einem Vergleich des Lebens mit einem flügelschlagenden Gesang, der sich in Gassen bewegt, sich nähert und wieder entfernt. Dieses Bild vermittelt eine Vorstellung von Unbeständigkeit, Flüchtigkeit und Unberechenbarkeit. Das Leben wird hier als ein Wesen dargestellt, das sich der Genesenden nähert, sie aber zugleich immer wieder vermeidet. Diese metaphorische Darstellung deutet auf die Unsicherheit und das Changieren zwischen Hoffnung und Furcht hin, die mit der Genesung einhergehen können. Das Leben „spielt“ mit der Genesenden, was das spielerische, aber auch manchmal grausame Element des Genesungsprozesses unterstreicht.
Die zweite Strophe wechselt in eine direktere Betrachtung der Genesenden. Sie wird als schwach und ausgeruht beschrieben, bereit, sich dem Leben hinzugeben. Dieser Zustand der Hingabe wird durch eine „ungewohnte Geste“ ausgedrückt. Die Formulierung impliziert ein Gefühl der Neuheit und des Unbehagens, das mit dem wiedererlangten Lebensgefühl einhergeht. Die Genesende erlebt die Nähe des Lebens fast als „Verführung“, besonders in der Berührung der eigenen „harten“ Kinn durch die eigenen Hände. Die Hand, die zuvor von Fieber gepeinigt war, wird nun als Mittel der Zärtlichkeit empfunden, was auf eine versöhnliche Rückkehr zum Körpergefühl und zur Selbstwahrnehmung hindeutet.
Rilkes Sprache ist geprägt von Andeutungen und einer sensiblen Beobachtung. Er verwendet Metaphern, um die emotionalen Zustände der Genesenden zu erfassen. Die sanften Klänge und der Rhythmus des Gedichts verstärken den Eindruck von Zerbrechlichkeit und Wiedergeburt. Die Verwendung von Wörtern wie „flügelschlagend“, „scheut“ und „unbeholfen“ unterstreicht das Gefühl der Unsicherheit und des Wandels. Das Gedicht reflektiert die innere Welt der Genesenden, ihre Sensibilität und ihre langsame Rückkehr ins Leben, wobei die körperliche Genesung eng mit der seelischen verbunden ist.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.