Die Fensterrose
Da drin: das träge Treten ihrer Tatzen
macht eine Stille, die dich fast verwirrt;
und wie dann plötzlich eine von den Katzen
den Blick an ihr, der hin und wieder irrt,
gewaltsam in ihr großes Auge nimmt, –
den Blick, der, wie von eines Wirbels Kreis
ergriffen, eine kleine Weile schwimmt
und dann versinkt und nichts mehr von sich weiß
wenn dieses Auge, welches scheinbar ruht,
sich auftut und zusammenschlägt mit Tosen
und ihn hineinreißt bis ins rote Blut -:
So griffen einstmals aus dem Dunkelsein
der Kathedralen große Fensterrosen
ein Herz und rissen es in Gott hinein.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Die Fensterrose“ von Rainer Maria Rilke beschreibt in Metaphern das Ergriffensein durch die göttliche Erfahrung, indem es einen Vergleich zwischen der Wirkung einer Katze und der Wirkung der Fensterrosen in Kathedralen zieht. Das Gedicht beginnt mit der Beschreibung einer Katze, deren langsames Auftreten eine stille, fast verstörende Atmosphäre erzeugt. Diese Stille wird durchbrochen, wenn die Katze den Blick des Betrachters erfasst und in ihrem Auge gefangen nimmt.
Die Beschreibung des Blickes des Betrachters, der „wie von eines Wirbels Kreis ergriffen, eine kleine Weile schwimmt / und dann versinkt und nichts mehr von sich weiß“, deutet auf einen Zustand der Verwirrung und des Verlustes der eigenen Identität hin, eine Art Auflösung des Selbst. Dieses Gefühl der Auflösung wird verstärkt, wenn das Auge der Katze sich öffnet und „mit Tosen“ wieder schließt, den Betrachter in das „rote Blut“ hineinreißt. Dieses Bild steht symbolisch für die Intensität der Erfahrung, die den Betrachter überwältigt.
Der zweite Teil des Gedichts überträgt diese Erfahrung auf die religiöse Sphäre. Die „Kathedralen große Fensterrosen“ werden mit den Augen der Katze gleichgesetzt, und ihre Wirkung wird als ähnlich überwältigend beschrieben. Sie greifen „ein Herz“ und reißen es „in Gott hinein“. Hier wird die Fensterrose als ein Medium der göttlichen Erfahrung dargestellt, das das Herz des Gläubigen unwiderruflich in die göttliche Sphäre zieht.
Die Metaphern in diesem Gedicht evozieren das Unbeschreibliche. Das Eindringen in das Reich des Göttlichen wird als ein Prozess der Auflösung und der Hingabe dargestellt, der durch die Schönheit und Macht der Kunst, hier repräsentiert durch die Fensterrosen, ausgelöst wird. Rilke vermittelt so die Vorstellung, dass die religiöse Erfahrung ein überwältigendes Gefühl ist, das den Einzelnen aus seiner eigenen Welt reißt und ihn in eine neue Realität transformiert. Die Gegenüberstellung von Katze und Kathedralenfensterrose deutet auf eine universelle Erfahrung hin, die in verschiedenen Kontexten auftritt.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.