Geschlossener Ring
Vielleicht dass einst, wenn wie in Luft zerronnen
Sich dein Gelebtes deinem Blick entwand,
Dir müd im Schosse liegt die welke Hand,
Du wieder münden wirst, wo du begonnen.
Vielleicht dass da aus heimlichen Verstecken
Dein Kindsein aus den späten Zügen bricht,
Das wie ein allerinnerstes Gesicht
Die harten Alterslinien nur verstecken.
Vielleicht dass dumpf vertrauend ein Begehren
Den schon auf Erden fremden Geist befällt,
Dass er mit Vater, Mutter Zwiesprach hält,
Wie um in ihren Schoss zurückzukehren.
Vielleicht dass bis in seine letzten Falten
Das Herz sich dann entsiegelt und so rein
Und willig sich zurückgibt an das Sein,
Wie es dem vollen Leben stillgehalten.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Geschlossener Ring“ von Hedwig Lachmann beschäftigt sich mit dem Zyklus des Lebens und der Idee von Rückkehr und Vollendung. In der ersten Strophe wird die Vorstellung eines Lebens beschrieben, das sich irgendwann, wenn es der Vergangenheit entgleitet, wieder in sich selbst zurückfindet. Die „welke Hand“ und das Bild des „müden Schosses“ deuten auf den natürlichen Verfall hin, jedoch auch auf das mögliche „Münden“ zurück zu dem Ort, an dem alles begann – eine symbolische Rückkehr zum Ursprung.
Die zweite Strophe greift die Idee auf, dass in den späten Jahren „heimliches Kindsein“ wieder zum Vorschein kommen könnte. Die „späten Züge“ des Lebens, die durch die „harten Alterslinien“ gezeichnet sind, verbergen noch immer einen Zugang zu der kindlichen Unschuld oder Unbefangenheit. Lachmann lässt erahnen, dass selbst in den Spuren des Alters etwas von der ursprünglichen Reinheit und Vitalität des Lebens existiert.
In der dritten Strophe wird das „Begehren“ beschrieben, das sich als ein vertrauliches, fast kindliches Bedürfnis äußert, in den „Schoss“ der Eltern zurückzukehren. Der „fremde Geist“ des erwachsenen Menschen möchte mit den „Vater, Mutter“ sprechen – eine Metapher für das Streben nach Geborgenheit und dem Wunsch nach einem Rückzug in eine Zeit, in der das Leben noch weniger von Lasten geprägt war. Hier wird der Drang nach emotionaler Nähe und nach einem Zustand der Unschuld und Fürsorge betont.
In der letzten Strophe wird der Gedanke des Zurückgebens und der Vollendung weitergeführt. Das Herz, das bis in seine letzten „Falten“ noch in sich verschlossen war, öffnet sich und gibt sich „an das Sein“ zurück. Dies könnte als eine Metapher für das Erreichen einer inneren Ruhe und Akzeptanz des Lebens in seiner Endgültigkeit verstanden werden. Die „letzten Falten“ symbolisieren dabei nicht nur das Altern, sondern auch die Erkenntnis, dass das Leben in seinem vollen Verlauf „stillgehalten“ wurde, in dem Sinne, dass alle Phasen – von der Kindheit bis zum Alter – Teil eines geschlossenen, vollständigen Kreises sind.
Das Gedicht vermittelt die Vorstellung eines Lebenszyklus, der in sich selbst zurückkehrt und mit einer inneren Versöhnung endet. Es ist eine Reflexion über das Alter, den Wunsch nach Rückkehr und Geborgenheit sowie die Akzeptanz des Lebens in seiner Ganzheit. Der „geschlossene Ring“ des Gedichts spiegelt die Idee wider, dass das Leben in seinem Verlauf immer wieder zu einem Anfangspunkt zurückführt, wo es sich vervollständigt und seine Ruhe findet.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.