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Die alte Frau

Von

Täglich sitzt sie in Erinnerungen,
Ihre Hände auf den Knien verschlungen.

Eingesponnen in ihr Traumgewebe,
Schaukelnd auf versunkner Zeiten Schwebe.

Ihre Quellen haben sich geschlossen,
Sind ins Innere zurückgeflossen;

Auf dem dunklen Seelenspiegel jagen
Sich die Schatten von gelebten Tagen.

Immer weht es aus dem Unsichtbaren:
Ist sie nicht die Gleiche wie vor Jahren?

In dem unterirdischen Verstecke
Sprengt ihr frühes Selbst die leichte Decke,

Drängt mit ungebrochnen Schmerzgewalten
Sich im Bild der Seele zu gestalten.

Scheu verschlossne Sehnsuchtstriebe springen,
Zitternd, sich aufs neue darzubringen.

In dem Sternenglanz der Allmacht spiegelt
Sich ihr Sein vollendet und entsiegelt.

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Gedicht: Die alte Frau von Hedwig Lachmann

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die alte Frau“ von Hedwig Lachmann beschreibt in eindringlichen, bildreichen Versen den inneren Zustand einer gealterten Frau, die sich zunehmend von der äußeren Welt zurückzieht und in die Tiefen ihrer Erinnerung eintaucht. Der Fokus liegt nicht auf der äußeren Erscheinung des Alters, sondern auf den seelischen Prozessen, die das Alter begleitet: Rückbesinnung, Verklärung der Vergangenheit, innerer Dialog mit dem eigenen früheren Selbst.

Gleich zu Beginn wird die Figur als still und versunken dargestellt, ihre Hände „auf den Knien verschlungen“, was eine Geste der Sammlung, vielleicht auch der Abgeschlossenheit suggeriert. Sie lebt „eingesponnen in ihr Traumgewebe“, ein Bild, das eine fragile, fast schwebende Welt beschreibt, in der die Grenzen zwischen Realität und Erinnerung verschwimmen. Dabei wird die Vergangenheit nicht bloß erinnert, sondern aktiv durchlebt – sie „schaukelt“ auf der Schwebe versunkener Zeiten, was dem Vergangenen eine gewisse Lebendigkeit verleiht.

Die Verse thematisieren zudem die Verschiebung von äußeren zu inneren Quellen: „Ihre Quellen haben sich geschlossen, / Sind ins Innere zurückgeflossen.“ Das innere Erleben ist zur Hauptwirklichkeit geworden. Auf dem „Seelenspiegel“ erscheinen Schatten der Vergangenheit – ein Ausdruck, der sowohl die Flüchtigkeit als auch die Unfassbarkeit dieser inneren Bilder beschreibt. Besonders berührend ist die Frage, ob sie „nicht die Gleiche wie vor Jahren“ sei – ein Hinweis auf die Untrennbarkeit zwischen dem gegenwärtigen Ich und den früheren Lebensphasen.

Das frühere Selbst der Frau ist keineswegs verstummt, sondern drängt „mit ungebrochnen Schmerzgewalten“ nach oben – ein starkes Bild für das nicht Verblasste, das immer noch wirksam ist. Die „verschlossne Sehnsuchtstriebe“ springen zitternd hervor, was auf ein zartes, aber ungebrochenes inneres Leben verweist. Trotz des Alters bleiben Emotionen und Wünsche bestehen, wenn auch auf einer anderen Ebene.

Im letzten Vers erfährt das Selbst der alten Frau eine Art transzendente Verklärung. Im „Sternenglanz der Allmacht“ spiegelt sich ihr Sein „vollendet und entsiegelt“. Hier schwingt ein mystischer Ton mit, als würde im Alter nicht nur ein Rückblick stattfinden, sondern auch eine Öffnung zu etwas Größerem, vielleicht Göttlichem. Das Gedicht endet also nicht resignativ, sondern mit einem leisen, aber kraftvollen Ausblick auf Vollendung und Erlösung.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.