Oft in der stillen Nacht
Oft in der stillen Nacht,
wenn zag der Atem geht
und sichelblank der Mond
am schwarzen Himmel steht,
wenn alles ruhig ist
und kein Begehren schreit,
führt meine Seele mich
in Kindeslande weit.
Dann seh′ ich, wie ich schritt
unfest mit Füßen klein,
und seh′ mein Kindesaug′
und seh′ die Hände mein
und höre meinen Mund,
wie lauter klar er sprach
und senke meinen Kopf
und denk′ mein Leben nach:
Bist du, bist du allweg
gegangen also rein,
wie du gegangen bist
auf Kindes Füßen klein?
Hast du, hast du allweg
gesprochen also klar,
wie einsten deines Munds
lautleise Stimme war?
Sahst du, sahst du allweg
so klar ins Angesicht
der Sonne, wie dereinst
der Kindesaugen Licht?
Ich blicke, Sichel, auf
zu deiner weißen Pracht;
tief, tief bin ich betrübt
oft in der stillen Nacht.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Oft in der stillen Nacht“ von Otto Julius Bierbaum ist eine tiefgründige Reflexion über die eigene Vergangenheit und die Frage nach der Integrität des eigenen Lebens. Es handelt von der Sehnsucht nach der Unschuld der Kindheit und der kritischen Auseinandersetzung mit dem Erwachsenenleben. Der Sprecher blickt in den ruhigen Momenten der Nacht, wenn die Welt zur Ruhe kommt, auf seine Kindheit zurück.
Die Struktur des Gedichts ist durch eine wiederkehrende Frage geprägt, die in den letzten Strophen wiederholt gestellt wird. Der Sprecher erinnert sich an seine Kindheit: an seine kleinen Füße, seine Kindesaugen und seine klare Stimme. Diese Erinnerungen dienen als Ausgangspunkt für die Selbstbefragung. Der Sprecher hinterfragt, ob er im Laufe seines Lebens stets rein, klar und unbeschwert geblieben ist, wie er es als Kind war. Die wiederholten „Bist du, hast du, sahst du“ unterstreichen die Intensität der Selbstreflexion und die Sehnsucht nach der verlorenen Unschuld.
Die poetischen Bilder der Natur, insbesondere der „sichelblanke Mond“, der am „schwarzen Himmel steht“, erzeugen eine Atmosphäre der Melancholie und der Stille. Der Mond symbolisiert dabei möglicherweise das Vergehen der Zeit und die Vergänglichkeit des Lebens. Die Nacht, in der der Sprecher seine Gedanken schweifen lässt, wird zur Bühne für eine tiefgreifende innere Auseinandersetzung. Die Ruhe der Nacht ermöglicht es dem Sprecher, sich mit seinem Leben zu konfrontieren und die eigenen Entscheidungen zu hinterfragen.
Das Gedicht gipfelt in einer tiefen Betrübtheit des Sprechers. Der Blick auf den Mond, der in seiner „weißen Pracht“ scheint, löst dieses Gefühl aus. Die Erkenntnis, dass die eigene Lebensreise möglicherweise nicht immer den Idealen der Kindheit entsprach, führt zu Traurigkeit. Es ist ein Eingeständnis, dass das Erwachsenenleben seine Spuren hinterlassen hat und die Unschuld verloren gegangen ist. Die „stille Nacht“ wird so zum Spiegel der Seele, in dem der Sprecher sein Leben reflektiert und die eigene Vergänglichkeit erkennt.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.