Fernes Licht
Fernes Licht mit nahem Schein
wie ich mich auch lenke,
lockt es dich nicht dazusein,
wenn ich an dich denke?
Wo du bist, du sagst es nicht
und du kannst nicht lügen.
Nahen Schein von fernem Licht
läßt du mir genügen.
Wüßt‘ ich, wo das ferne Licht,
wo es aufgegangen,
naher Schein, er wehrte nicht,
leicht dich zu erlangen.
Fernes Licht mit nahem Schein
mir zu Lust und Harme,
lockt es dich nicht da zu sein,
wenn ich dich umarme?
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Fernes Licht“ von Karl Kraus ist eine lyrische Miniatur von großer emotionaler Dichte, die in wenigen Strophen eine Stimmung von Sehnsucht, Distanz und unerfülltem Verlangen heraufbeschwört. Die zentrale Metapher des „fernen Lichts mit nahem Schein“ steht dabei für eine geliebte Person, die zwar unerreichbar fern ist, aber dennoch eine spürbare, fast körperlich nahe Präsenz entfaltet – durch Erinnerung, Vorstellung oder emotionale Verbundenheit.
Die Struktur des Gedichts lebt von der Wiederholung und leichten Variation der Eröffnungszeile, was dem Text eine fast meditative, kreisende Bewegung verleiht. Dieses Spiel mit Nähe und Ferne, Licht und Schatten, Wahrheit und Schweigen erzeugt eine spannungsreiche Atmosphäre. Das lyrische Ich fragt nach der Gegenwart der abwesenden Geliebten, spürt sie, obwohl sie sich nicht zeigt – und bleibt dabei im Ungewissen, ob diese Verbundenheit gegenseitig ist.
Bemerkenswert ist die Rolle des Lichts: Es erscheint als Sinnbild für Hoffnung, Orientierung und emotionale Wärme – doch sein Ursprung bleibt verborgen. Das „ferne Licht“ lässt sich nicht lokalisieren, nicht festhalten, und der „nahe Schein“ genügt zwar für ein Gefühl von Gegenwart, doch nicht für Erfüllung. Diese Ambivalenz zwischen Trost und Schmerz zieht sich durch das gesamte Gedicht und kulminiert in der letzten Strophe, in der das Umarmen – eigentlich Ausdruck unmittelbarer Nähe – nur im Konjunktiv steht: „wenn ich dich umarme“.
„Fernes Licht“ ist ein leises, melancholisches Gedicht, das in seiner Schlichtheit und formalen Strenge eine tiefe emotionale Wirkung entfaltet. Kraus gelingt es, mit wenigen Worten ein Gefühl zu evozieren, das zwischen Hoffnung und Resignation schwebt – die Sehnsucht nach Nähe, die durch Abwesenheit umso stärker empfunden wird. Der Text ist dabei nicht nur Ausdruck persönlicher Empfindung, sondern auch ein poetisches Nachdenken über die Unzulänglichkeit von Sprache und Wahrnehmung in der Liebe.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.