Sonne und Mond zugleich
Der Berg des Westens aber hält
In einer blütenweißen Flocke
Die Sonne auf, dass weich sie fällt.
Die Sonne, kaum darin empfangen,
Tritt durch die Flocke, groß und rot;
Und diese ist noch kaum zergangen
In reiner Mitglut, als die Glocke
Des Himmels bis zum Aufgang loht.
Der Berg des Ostens, angeschlagen
Von klingend weichen Lüften, bricht
Sein Schweigen. Rein empor getragen
In den gestillten Raum entsteigt ihm
Der Mond, der volle, dunkelgelbe,
Der staunende. Die Sonne zeigt ihm
Ihr nie gesehenes Gesicht.
Sie schaudern. Denn sie sind dasselbe.
Der Mensch steht auf dem Berg der Mitte.
Bei der Verständigung der Nacht
Ist mit dem Tage er der Dritte,
Den die von einem seltnen Lose
Vereinigten Gestirne weiden.
Er sagt zur Sonne: meine Rose,
Zum Mond: o Lilie! Und lacht,
Im Schlafe wach, und spielt mit beiden.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Sonne und Mond zugleich“ von Max Kommerell beschreibt eine beeindruckende kosmische Szenerie, die den Wechsel von Tag und Nacht sowie das Zusammenspiel der beiden Himmelskörper – Sonne und Mond – thematisiert. Der „Berg des Westens“ wird als Ort beschrieben, an dem die Sonne in einer „blütenweißen Flocke“ ruht, was eine sanfte, fast mystische Atmosphäre schafft. Die Sonne ist zunächst „weich“ und „rot“, bevor sie durch die Flocke hindurchtritt, was auf den Übergang von Dämmerung zu Tag hinweist. Die „Glocke des Himmels“, die mit dem Aufgang des Tages erklingt, verstärkt dieses Bild eines zarten Übergangs, der von einem kraftvollen Moment des Erwachens begleitet wird.
Im Gegensatz dazu wird der „Berg des Ostens“ in der zweiten Strophe von „klingend weichen Lüften“ berührt, was die leise und behutsame Annäherung der Nacht anzeigt. Hier steigt der Mond auf, ein „voller, dunkelgelber“ Mond, der in seiner „staunenden“ Haltung die Sonne bewundert und ihr ein „nie gesehenes Gesicht“ zeigt. Die Begegnung der Sonne und des Mondes führt zu einem Moment des Staunens, denn sie sind in ihrer Essenz dasselbe – zwei Seiten der gleichen kosmischen Ordnung. Das Gedicht drückt eine tiefere Einheit und Harmonie zwischen den scheinbar gegensätzlichen Kräften von Tag und Nacht aus.
Die letzte Strophe führt den Menschen ein, der „auf dem Berg der Mitte“ steht und zwischen diesen beiden Kräften vermittelt. Der Mensch nimmt die Rolle des Vermittlers und Beobachters ein, der im Einklang mit der Natur und den Himmelskörpern lebt. Seine Bezeichnungen für die Sonne als „meine Rose“ und den Mond als „o Lilie!“ zeigen eine poetische und liebevolle Verbindung zu diesen Elementen der Natur, die er sowohl als Teil seines inneren Lebens als auch als äußere, kosmische Mächte anerkennt. Das „Lachen“ und das „Spielen“ mit beiden Himmelskörpern im Zustand des „Schlafe Wach“ symbolisieren eine gewisse Unschuld und Verspieltheit, die der Mensch in seiner Rolle als Mittler zwischen Tag und Nacht empfindet.
Kommerell greift in diesem Gedicht die Idee der Einheit von Gegensätzen auf, wobei er Tag und Nacht, Sonne und Mond als verschiedene Ausdrücke eines gleichen kosmischen Prinzips darstellt. Der Mensch steht als Bindeglied zwischen diesen beiden Kräften und ist in seiner Existenz sowohl Teil der Natur als auch ein Vermittler von Harmonie und Ausgleich. Das Gedicht lässt eine tiefe Verbundenheit und ein spielerisches Vertrauen in das natürliche Gleichgewicht spüren, das durch die Wechselwirkung von Tag und Nacht geschaffen wird.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.