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Wir Juden
Nur Nacht hört zu. Ich liebe dich, ich liebe dich, mein Volk,
Und will dich ganz mit Armen umschlingen heiß und fest,
So wie ein Weib den Gatten, der am Pranger steht, am Kolk
Die Mutter den geschmähten Sohn nicht einsam sinken lässt.
Und wenn ein Knebel dir im Mund den blutenden Schrei verhält,
Wenn deine zitternden Arme nun grausam eingeschnürt,
So lass mich Ruf, der in den Schacht der Ewigkeiten fällt,
Die Hand mich sein, die aufgereckt an Gottes hohen Himmel rührt.
Denn der Grieche schlug aus Berggestein seine weißen Götter hervor,
Und Rom warf über die Erde einen ehernen Schild,
Mongolische Horden wirbelten aus Asiens Tiefen empor,
Und die Kaiser in Aachen schauten ein südwärts gaukelndes Bild.
Und Deutschland trägt und Frankreich trägt ein Buch und ein blitzendes Schwert,
Und England wandelt auf Meeresschiffen bläulich silbernen Pfad,
Und Russland ward riesiger Schatten mit der Flamme auf seinem Herd.
Und wir, wir sind geworden durch den Galgen und das Rad.
Dies Herzzerspringen, der Todesschweiß, ein tränenloser Blick
Und der ewige Seufzer am Marterpfahl, den heulenden Wind verschlang.
Und die dürre Kralle, die elende Faust, die aus Scheiterhaufen und Strick
Ihre Adern grün wie Vipernbrut dem Würger entgegenrang.
Der greise Bart, in Höllen versengt, von Teufelsgriff zerfetzt,
Verstümmelt Ohr, zerrissene Brau und dunkelnder Augen fliehn:
Ihr! Wenn die bittere Stunde reift, so will ich aufstehn hier und jetzt,
So will ich wie ihr Triumphtor sein, durch das die Qualen ziehn!
Ich will den Arm nicht küssen, den ein strotzendes Zepter schwellt,
Nicht das erzene Knie, den tönernen Fuß des Abgotts harter Zeit;
O könnt ich wie lodernde Fackel in die finstere Wüste der Welt
Meine Stimme heben: Gerechtigkeit! Gerechtigkeit! Gerechtigkeit!
Knöchel. Ihr schleppt doch Ketten, und gefangen klirrt mein Gehn.
Lippen. Ihr seid versiegelt, in glühendes Wachs gesperrt.
Seele. In Käfiggittern einer Schwalbe flatterndes Flehn.
Und ich fühle die Faust, die das weinende Haupt auf den Aschenhügeln mir zerrt.
Nur Nacht hört zu. Ich liebe dich, mein Volk im Plunderkleid.
Wie der heidnischen Erde, Gäas Sohn entkräftet zur Mutter glitt,
So wirf dich zu dem Niederen hin, sei schwach, umarme das Leid,
Bis einst dein müder Wanderschuh auf den Nacken des Starken tritt!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Wir Juden“ von Gertrud Kolmar ist ein leidenschaftliches, zutiefst persönliches Bekenntnis zur jüdischen Identität – zugleich Liebeserklärung und Anklageschrift. In eindringlichen Bildern beschreibt Kolmar das kollektive Leiden des jüdischen Volkes über Jahrhunderte hinweg und verbindet es mit einer fast mystischen Vision von innerer Stärke, Demut und letztlich geistigem Triumph.
Das lyrische Ich spricht sein Volk mit großer Intimität und Zärtlichkeit an („Ich liebe dich, mein Volk“) und stellt sich selbst als Stimme und Hand derer dar, die durch Gewalt, Verfolgung und Erniedrigung zum Schweigen gebracht wurden. Die jüdische Geschichte wird als Geschichte der Qualen dargestellt: der Pranger, der Scheiterhaufen, das Rad – Folterinstrumente, die zu Symbolen des kollektiven Martyriums werden. Zugleich entsteht aus dieser Leidensgeschichte ein paradoxes Selbstbewusstsein, das nicht auf weltlicher Macht, sondern auf moralischer Standhaftigkeit beruht.
Kolmar setzt die jüdische Existenz in Kontrast zu den nationalen Mythen anderer Kulturen – Griechen, Römer, Deutsche, Franzosen, Russen – deren Größe durch Eroberung, Technik oder künstlerische Monumente definiert ist. Dem stellt sie das jüdische Volk gegenüber, das „durch den Galgen und das Rad“ geworden ist. Die Geschichte wird hier nicht als Siegeszug, sondern als Leidensweg erzählt – und gerade darin liegt eine besondere Würde. Die Figur der jüdischen Mutter oder Geliebten, die selbst im Moment äußerster Ohnmacht nicht weicht, verkörpert diese Haltung eindrucksvoll.
Sprachlich ist das Gedicht von hoher Dramatik und symbolischer Dichte. Es operiert mit starken Gegensätzen – Licht und Dunkel, Stärke und Schwäche, Feuer und Asche – und kulminiert in dem dreifachen Ruf nach „Gerechtigkeit!“. Der abschließende Wunsch, sich wie eine Fackel zu erheben oder den „Wanderschuh“ auf den „Nacken des Starken“ zu setzen, enthält eine Vision von Umkehr der Machtverhältnisse, aber nicht durch Gewalt, sondern durch geistige Überlegenheit.
„Wir Juden“ ist damit ein poetischer Akt des Widerstands gegen das Verstummen und zugleich eine Feier der jüdischen Identität, getragen von Schmerz, Liebe und Hoffnung. Kolmar schafft ein Zeugnis tiefer historischer Verwurzelung, das über das Individuelle hinaus zu einer universellen Anklage gegen Unrecht und zu einer Vision von Menschlichkeit wird.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.