Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , , , ,

Verwandlungen

Von

Ich will die Nacht um mich ziehn als ein warmes Tuch
Mit ihrem weißen Stern, mit ihrem grauen Fluch,
Mit ihrem wehenden Zipfel, der die Tagkrähen scheucht,
Mit ihren Nebelfransen, von einsamen Teichen feucht.

Ich hing im Gebälke starr als eine Fledermaus,
Ich lasse mich fallen in Luft und fahre nun aus.
Mann, ich träumte dein Blut, ich beiße dich wund,
Kralle mich in dein Haar und sauge an deinem Mund.

Über den stumpfen Türmen sind Himmelswipfel schwarz.
Aus ihren kahlen Stämmen sickert gläsernes Harz
Zu unsichtbaren Kelchen wie Oportowein.
In meinen braunen Augen bleibt der Widerschein.

Mit meinen goldbraunen Augen will ich fangen gehn,
Fangen den Fisch in Gräben, die zwischen Häusern stehn,
Fangen den Fisch der Meere: und Meer ist ein weiter Platz
Mit zerknickten Masten, versunkenem Silberschatz.

Die schweren Schiffsglocken läuten aus dem Algenwald.
Unter den Schiffsfiguren starrt eine Kindergestalt,
In Händen die Limone und an der Stirn ein Licht.
Zwischen uns fahren die Wasser; ich behalte dich nicht.

Hinter erfrorener Scheibe glühn Lampen bunt und heiß,
Tauchen blanke Löffel in Schalen, buntes Eis;
Ich locke mit roten Früchten, draus meine Lippen gemacht,
Und bin eine kleine Speise in einem Becher von Nacht.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Verwandlungen von Gertrud Kolmar

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Verwandlungen“ von Gertrud Kolmar zeichnet ein kraftvolles Bild von metamorphosischen Prozessen und der Verschmelzung von Natur, Körper und Fantasie. Zu Beginn beschreibt die Sprecherin, wie sie die Nacht wie ein „warmes Tuch“ um sich zieht, das sowohl Licht als auch Dunkelheit umfasst. Die Nacht wird nicht nur als Ruhepol dargestellt, sondern auch als etwas, das „wehende Zipfel“ besitzt, die den Tag vertreiben. Sie ist eine Mischung aus Schönheit und Bedrohung, dargestellt durch den „grauen Fluch“ und die „feuchten Nebelfransen“ von Teichen, die eine gewisse Einsamkeit und Entfremdung hervorrufen.

In der zweiten Strophe tritt die Sprecherin in eine Körpertransformation ein. Sie verwandelt sich in eine Fledermaus, „hängt im Gebälke starr“ und fliegt dann in die Luft, um sich in eine andere Dimension der Existenz zu begeben. Die Verbindung zu einem anderen Menschen wird durch das Bild des „Bissens“ und „Saugen“ intensiviert, was den körperlichen und emotionalen Austausch symbolisiert. Das Bild der Fledermaus, die zwischen den Welten pendelt, weist auf die Suche nach einem Übergang und das Streben nach einer intensiven, aber flüchtigen Verbindung hin.

Die dritte Strophe schildert eine düstere, fast geisterhafte Landschaft, in der die „stumpfen Türme“ und „Himmelswipfel“ das Bild einer Welt der Entfremdung und der Isolation hervorrufen. Das „gläserne Harz“, das „zu unsichtbaren Kelchen“ sickert, erinnert an ein Vergängliches und Zerbrechliches, während der „Widerschein“ in den Augen der Sprecherin darauf hinweist, dass ihre Wahrnehmung von der Welt von einem tiefen inneren Konflikt geprägt ist. Es ist eine Welt des Verborgenen und des Unzugänglichen, in der die Natur und ihre Elemente eine fremde, fast unheimliche Bedeutung erhalten.

In der vierten Strophe tritt die Sprecherin in eine aktive Rolle als Jägerin, die mit ihren „goldbraunen Augen“ versucht, die „Fische“ zu fangen – sei es der Fisch in den Gräben der Stadt oder der „Fisch der Meere“. Der „Silberschatz“ und die „zerknickten Masten“ des versunkenen Schiffs sind Symbole für das Unbewusste und das Verborgene, das die Sprecherin zu erlangen sucht. Das Meer wird hier als ein grenzenloser Raum der Möglichkeiten, aber auch der Gefahr dargestellt.

In der letzten Strophe wird die metaphorische Verwandlung weitergeführt, indem die Sprecherin sich in eine „kleine Speise“ verwandelt, die in der „Becher von Nacht“ gehalten wird. Dies ist ein Bild der Verlockung und des Verfalls, ein Moment des sich Verzehrens und des Aufgehens im anderen, symbolisiert durch die „roten Früchte“ und das „bunte Eis“, das zugleich süß und unerreichbar erscheint. Es ist eine seltsame und zugleich verführerische Mischung aus Nahrhaftem und Vergehendem, die die dunklen und rätselhaften Aspekte der menschlichen Existenz widerspiegelt.

Kolmar verwendet in „Verwandlungen“ eine Vielzahl von metaphorischen Bildern, die zwischen Natur, Körper und Fantasie oszillieren. Die Verwandlung der Sprecherin von der Fledermaus über die Jägerin bis hin zur „kleinen Speise“ deutet auf eine ständige Bewegung und Veränderung hin, die sich in der Entgrenzung von Identität und Raum ausdrückt. Das Gedicht beschäftigt sich mit den dynamischen Kräften von Lust, Sehnsucht und Transformation, die die menschliche Erfahrung prägen.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.