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Nachruf

Von

Ich werde sterben, wie die Vielen sterben;
Durch dieses Leben wird die Harke gehn
Und meinen Namen in die Scholle kerben.
Ich werde leicht und still und ohne Erben
Mit müden Augen kahle Wolken sehn,

Den Kopf so neigen, so die Arme strecken
Und tot sein, ganz vergangen sein, ein Nichts.
Und Bettler klammern noch die Wanderstecken
Wie Zauberruten, stehn an Straßenecken,
In leerem Hut das Gold des Abendlichts,

Das ihre magren Finger doch nicht halten,
Dafür der Händler nie Kartoffeln tauscht.
Ich aber liege satt und warm im Kalten,
Und Zorn und Gram und Lust und Händefalten
Sind Meer, davon die große Muschel rauscht …

Ich war. Und werde Staub, den Füße trampeln.
Ich weiß es. Ihr. Ihr starbet lang und seid.
Die Krämer rechnen und die Narren hampeln;
Ihr wartet schweigend unter roten Ampeln
So sanft und unerbittlich wie das Leid,

Den Arm noch festgeschnallt am Henkerkarren,
Und einem strahlt das Messer in der Brust.
Da raffen Diebe, und da peitschen Narren,
Und ich bin Staub, den tausend Füße scharren,
Ich bin – und habe doch von euch gewußt.

Und hab auf diesem Antlitz euch getragen;
Der schwache Spiegel ward es, der euch fing,
Der hingestürzt, erblindet und zerschlagen.
Ach ich. Was bin ich euren ewigen Tagen
Als Blick, als Sandkorn, rinnend und gering?

Die weiche Krume Lehm, die ihr geknetet
Und noch zur Form mit harten Händen zwingt.
Ihr. Die ihr ernst aus euren Nischen tretet,
Was wißt ihr von dem Herzen, das euch betet,
Was von dem Mund, der eure Glorie singt?

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Gedicht: Nachruf von Gertrud Kolmar

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Nachruf“ von Gertrud Kolmar ist ein tief melancholischer und zugleich eindringlicher poetischer Abschied, in dem die Dichterin ihre eigene Vergänglichkeit reflektiert und sich zugleich mit der Menschheit, insbesondere mit den Leidenden und Vergessenen, solidarisiert. Es ist ein Nachruf auf das eigene Leben – doch nicht nur im biografischen, sondern auch im existenziellen und historischen Sinn.

Kolmar entwirft das Bild eines stillen Todes, der nicht herausgehoben ist, sondern alltäglich und anonym – „leicht und still und ohne Erben“. Das lyrische Ich reiht sich ein in die „Vielen“, deren Leben spurlos verweht. Die Natur – hier als Ackerboden, Lehm und Staub – wird zum Sinnbild des Verschwindens, aber auch der Eingliederung in einen größeren Kreislauf. Trotz der scheinbaren Bedeutungslosigkeit („ein Nichts“) offenbart sich eine intensive, stille Würde im Vergehen.

Die zweite Strophe kontrastiert das persönliche Sterben mit der ungebrochenen Armut und Ungerechtigkeit in der Welt: Bettler stehen weiterhin an den Straßenecken, doch selbst das Gold des Sonnenlichts bleibt ihnen unzugänglich. Die Außenwelt bleibt von der inneren Wandlung unberührt, sie dreht sich weiter im Kreislauf von Elend und Gleichgültigkeit. Doch inmitten dieser Kälte liegt das lyrische Ich nun „satt und warm“, gewissermaßen erlöst von weltlichen Qualen. Die Metapher des rauschenden Meeres, das aus „Zorn und Gram und Lust“ besteht, suggeriert eine Auflösung des Persönlichen im großen Ganzen.

In den späteren Strophen wird deutlich, dass Kolmar das eigene Leben als Spiegel der anderen sieht – der Entrechteten, Hingerichteten, Wahnsinnigen. Sie schreibt nicht aus rein individueller Perspektive, sondern spricht als Teil eines größeren Leidenskollektivs. Ihre Worte tragen das Wissen um diese anderen, ihr Sterben ist symbolisch auch das Sterben derer, die vor ihr kamen und die in gesellschaftlichen Randbereichen verschwinden.

Abschließend stellt sich das lyrische Ich selbst als nichts weiter dar als ein vergänglicher Spiegel: ein „Blick“, ein „Sandkorn“, das den Ewigen – den Geschichtsmächtigen, den Totgeweihten – gegenübersteht. Die letzten Verse hinterfragen bitter die Kluft zwischen Herrschaft und Hingabe: Was wissen jene, die Macht haben und aus den „Nischen“ der Geschichte treten, von denjenigen, die sie besingen, an sie glauben, sie ertragen? In dieser Frage kulminiert eine leise Anklage – und zugleich ein letztes, erschütterndes Selbstbild voller Demut und sprachlicher Klarheit.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.