Liebende
Ihre Leiber standen in den Abendschatten licht,
Schmal und hoch, von schimmerloser Bleiche:
Blütenzweig, den Lieb für Liebe bricht,
Wind gewiegt und Tau geküßt am Teiche.
Stern um Stern kroch übers Dach sie anzusehen,
Und die Schar der zarten Wolkenlämmer
Flockte zögernder in lindem Wehn:
Ihre Leiber standen licht im Dämmer.
War das Eine kurzen Weg hinab geeilt,
Riefs das Andere um mit stillem Schaun;
Feiner Falterflügel, zwiegeteilt,
Schleierblaß, verwuchsen sie im Grauen.
Leise, wie ein Stückchen leichter Tag,
Sind sie dann in Nacht und Gras gegangen. –
Und die braunen Hasen im Verschlag
Äugten wundernd durch die Gitterstangen.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Liebende“ von Gertrud Kolmar beschreibt eine intime und zugleich zarte Begegnung von zwei Liebenden, die in einer natürlichen, fast magischen Umgebung in ihrer Beziehung miteinander verschmelzen. Zu Beginn wird ihre Präsenz in der Dämmerung geschildert, ihre Körper sind von einer „schimmerlosen Bleiche“ umhüllt, die sie wie geisterhafte Figuren erscheinen lässt. Das Bild des „Blütenzweigs“, den die Liebe für die Liebe bricht, sowie der „Wind“ und der „Tau“, die am Teich „geküsst“ werden, vermitteln eine sanfte, beinahe zerbrechliche Verbindung zwischen den Liebenden und der umgebenden Natur.
In der zweiten Strophe wird die Verbindung zwischen den Liebenden durch den Blick auf den Himmel und die Natur weiter vertieft. Die „Sterne“, die über das Dach kriechen, und die „zarten Wolkenlämmer“, die sich im Wind bewegen, symbolisieren eine Art universelle Verbundenheit, die die Liebenden umgibt. Ihre Körper stehen im Dämmerlicht, was die Vergänglichkeit und das Verschwommene ihrer Existenz in diesem Moment der Liebe unterstreicht. Die zögernde Bewegung der Wolken und der Wind betonen die Leichtigkeit und Unsicherheit, mit der die Liebenden miteinander agieren, fast wie eine sanfte Verwirrung, die in der Luft liegt.
Die dritte Strophe führt die Metaphorik fort, indem sie die Liebenden als „Feiner Falterflügel“ beschreibt, der „zwiegeteilt“ ist. Dieser Vergleich bringt die Fragilität und die Zerbrechlichkeit der Beziehung zum Ausdruck, während das „Schleierblaß“ und das „verwuchsen sie im Grauen“ ein Bild für den langsamen Übergang von einer Phase der Liebe zu einer tieferen, vielleicht melancholischen Erkenntnis bieten. Der Falter als Symbol für Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit verstärkt das Gefühl der Transitorität dieser Erfahrung.
Am Ende des Gedichts, in der letzten Strophe, treten die Liebenden aus der Dämmerung in die Nacht und in den Grasboden, was den endgültigen Übergang von einem Moment der Zärtlichkeit in die Dunkelheit symbolisiert. Ihre Verbindung scheint mit der Natur zu verschmelzen, und die „braunen Hasen im Verschlag“, die „wundernd durch die Gitterstangen äugen“, bieten einen Kontrast zu der ungestümen, aber fragilen Liebe der beiden, indem sie eine Perspektive der Beobachtung und des Staunens einnehmen.
Kolmar beschreibt in „Liebende“ eine Liebe, die gleichzeitig zart, verwundbar und von einer unaufhaltsamen Verbindung zur Natur durchzogen ist. Das Gedicht entfaltet sich in einer fast träumerischen Stimmung und zieht Parallelen zwischen den fließenden, zarten Bewegungen der Natur und den zarten Berührungen der Liebenden. Die Natur wird zum Spiegelbild ihrer Beziehung, in der sowohl die Schönheit als auch die Vergänglichkeit und das Geheimnis der Liebe betont werden.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.