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Die Jüdin

Von

Ich bin fremd.

Weil sich die Menschen nicht zu mir wagen,
Will ich mit Türmen gegürtet sein,
Die steile, steingraue Mützen tragen
In Wolken hinein.

Ihr findet den erzenen Schlüssel nicht
Der dumpfen Treppe. Sie rollt sich nach oben,
Wie platten, schuppigen Kopf erhoben
Eine Otter ins Licht.

Ach, diese Mauer morscht schon wie Felsen,
Den tausendjähriger Strom bespült;
Die Vögel mit rohen, faltigen Hälsen
Hocken, in Höhlen verwühlt.

In den Gewölben rieselnder Sand,
Kauernde Echsen mit sprenkligen Brüsten –
Ich möcht eine Forscherreise rüsten
In mein eigenes uraltes Land.

Ich kann das begrabene Ur der Chaldäer
Vielleicht entdecken noch irgendwo,
Den Götzen Dagon, das Zelt der Hebräer,
Die Posaune von Jericho.

Die jene höhnischen Wände zerblies,
Schwärzt sich in Tiefen, verwüstet, verbogen;
Einst hab ich dennoch den Atem gesogen,
Der ihre Töne stieß.

Und in Truhen, verschüttet vom Staube,
Liegen die edlen Gewänder tot,
Sterbender Glanz aus dem Flügel der Taube
Und das Stumpfe des Behemoth.

Ich kleide mich staunend. Wohl bin ich klein,
Fern ihren prunkvoll mächtigen Zeiten,
Doch um mich starren die schimmernden Breiten
Wie Schutz, und ich wachse ein.

Nun seh ich mich seltsam und kann mich nicht kennen,
Da ich vor Rom, vor Karthago schon war,
Da jäh in mir die Altäre entbrennen
Der Richterin und ihrer Schar.

Von dem verborgenen Goldgefäß
Läuft durch mein Blut ein schmerzliches Gleißen,
Und ein Lied will mit Namen mich heißen,
Die mir wieder gemäß.

Himmel rufen aus farbigen Zeichen.
Zugeschlossen ist euer Gesicht:
Die mit dem Wüstenfuchs scheu mich umstreichen,
Schauen es nicht.

Riesig zerstürzende Windsäulen wehn,
Grün wie Nephrit, rot wie Korallen,
Über die Türme. Gott läßt sie verfallen
Und noch Jahrtausende stehn.

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Gedicht: Die Jüdin von Gertrud Kolmar

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Jüdin“ von Gertrud Kolmar ist ein eindrucksvolles lyrisches Selbstporträt, das individuelle Identität, kollektives Gedächtnis und historische Tiefe auf einzigartige Weise verbindet. In einer Sprache voller mythischer Anspielungen und symbolischer Bilder beschreibt das lyrische Ich seine existentielle Fremdheit – nicht nur im gesellschaftlichen, sondern auch im metaphysischen Sinn. Das Gedicht ist zugleich ein Ausdruck von Selbstbehauptung und innerer Erkundung: Es ist der Versuch, die jüdische Herkunft als uraltes, machtvolles und gleichzeitig verletzbares Erbe zu begreifen und poetisch zu gestalten.

Schon der erste Vers – „Ich bin fremd“ – setzt den Ton der Isolation. Diese Fremdheit ist nicht nur sozialer Ausschluss, sondern auch eine bewusste Abgrenzung: Die Sprecherin zieht sich in eine Festung zurück, „mit Türmen gegürtet“, hoch und abweisend, in der sich Geschichte und Mythos ballen. Die Bilder der „steingrauen Mützen“ und der „Otter“ suggerieren etwas Dunkles, Undurchdringliches und gleichzeitig Geheimnisvolles. Das Innere dieser Welt – Symbol für Identität und Vergangenheit – ist schwer zugänglich, sogar für das Ich selbst.

Die Reise in das eigene „uralte Land“ wird zur inneren Archäologie. In den Tiefen des Selbst lagern Spuren vergangener Kulturen: Chaldäer, Hebräer, Dagon, Jericho – eine Kette aus Namen und Symbolen, die das Judentum mit seinen orientalischen Ursprüngen, seinem nomadischen, prophetischen und mystischen Charakter aufruft. Kolmar verleiht dieser Geschichte etwas Monumentales – aber nicht im Sinne von Macht, sondern im Sinne von lastender, versunkener Bedeutung, die es neu zu entdecken gilt.

In der Strophe über die edlen Gewänder und die Truhen voller Staub bringt Kolmar die Verbindung von Schönheit und Verfall zum Ausdruck. Das lyrische Ich kleidet sich in vergangene Pracht, erkennt sich selbst als Teil einer Geschichte, die es überragt – und beginnt dennoch zu „wachsen“. Diese Bewegung von Staunen und Einwachsen in das Erbe ist ein Moment des inneren Stolzes und der Selbstfindung. Trotz der Distanz zur „prunkvoll mächtigen Zeit“ erwächst daraus eine neue Stärke.

Besonders eindrucksvoll ist die Wendung zur richterlichen, prophetischen Figur in den letzten Strophen. Die Sprecherin sieht sich als Trägerin eines Liedes, das ihren wahren Namen kennt – ein Ruf aus einer Tiefe, der wieder Anschluss an göttliche Bestimmung und Berufung herstellt. Doch die Außenwelt bleibt blind: Die „farbigen Zeichen“ des Himmels sind da, aber die Menschen sehen sie nicht. Das lyrische Ich bleibt umkreist von Unverständnis, aber gleichzeitig in Verbindung mit einer kosmischen, göttlichen Dimension.

„Die Jüdin“ ist ein großes, geistiges Gedicht über jüdische Identität, Weiblichkeit und Geschichte. Es verbindet tiefe Einsamkeit mit spiritueller Würde, Fremdheit mit innerem Wissen, Vergangenheit mit Gegenwart. Gertrud Kolmar schafft darin ein kraftvolles poetisches Selbstbild – verletzlich, stolz, mythologisch aufgeladen und zutiefst menschlich.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.