Abschied
Nach Osten send ich mein Gesicht:
Ich will es von mir tun.
Es soll dort drüben sein im Licht,
Ein wenig auszuruhn
Von meinem Blick auf diese Welt,
Von meinem Blick auf mich,
Die plumpe Mauer Täglich Geld,
Das Treibrad Sputedich.
Sie trägt, die Welt in Rot und Grau
Durch Jammerschutt und Qualm
Die Auserwählten, Tropfentau
An einem Weizenhalm.
Ein glitzernd rascher Lebenslauf,
Ein Schütteln großer Hand:
Die einen fraß der Mittag auf,
Die andern schluckt der Sand.
Drum werd ich fröhlich sein und still,
Wenn ich mein Soll getan;
In tausend kleinen Wassern will
Ich rinnen mit dem Schwan,
Der ohne Rede noch Getön
Und ohne Denken wohl
Ein Tier, das stumm, ein Tier das schön,
Kein Geist und kein Symbol.
Und wenn ich dann nur leiser Schlag
An blasse Küsten bin,
So roll ich frühen Wintertag,
Den silbern kühlen Sarkophag
Des ewigen Todes hin,
Darin mein Antlitz dünn und leicht
Wie Spinneweben steht,
Ein wenig um die Winkel streicht,
Ein wenig flattert, lächelnd leicht,
Und ohne Qual verweht.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Abschied“ von Gertrud Kolmar ist eine stille, doch tief bewegende Auseinandersetzung mit dem Tod, der Vergänglichkeit und dem Wunsch nach Erlösung aus der Enge des Alltagslebens. Das lyrische Ich wendet sich symbolisch „nach Osten“, dem Ort des Lichts und der aufgehenden Sonne, und beschreibt eine bewusste Abkehr von der gegenwärtigen Welt, die als bedrückend und erschöpfend empfunden wird. Diese Welt ist geprägt von Materialismus („Täglich Geld“), rastloser Betriebsamkeit („Treibrad Sputedich“) und einer Mauer, die das Ich von innerer Freiheit trennt.
Kolmar setzt dieser Tristesse eine poetische Vision entgegen: Der Osten wird zum Ort des Friedens, der Distanz, vielleicht auch der Transzendenz. Der Blick soll sich dort „ausruhn“, abgewendet von sich selbst und der Welt. Die zweite Strophe weitet den Blick auf das globale Leid, auf Elend und Ausbeutung, aber auch auf die Flüchtigkeit und Gnadenlosigkeit des Lebens. Dabei bleibt Kolmars Bildsprache poetisch verdichtet: „Tropfentau an einem Weizenhalm“ steht zart neben Bildern von Tod und Wüste. Die Welt ist ein Ort der Gewalt und Zerbrechlichkeit zugleich.
In der dritten Strophe kehrt das Gedicht zur persönlichen Perspektive zurück und stellt die Sehnsucht nach Auflösung und Verschmelzung mit der Natur in den Mittelpunkt. Das Bild des Schwans, der „ohne Rede noch Getön“ durch das Wasser gleitet, steht für eine Existenz jenseits von Denken, Symbolik und Selbstreflexion. Die völlige Ruhe, das stille Dahinfließen im Einklang mit der Natur erscheint als erstrebenswerter Zustand – ein Loslassen der eigenen Individualität, das als Trost und Erlösung empfunden wird.
Die letzte Strophe führt diesen Gedanken ins Bild des Todes über. Der Tod erscheint hier nicht als Schreckensfigur, sondern als stiller, kühler „Sarkophag“ eines frühen Wintertages – silbern, ästhetisch, fast zärtlich. Der Tod ist nicht Ende, sondern ein neues Dasein in anderer Form: das Antlitz „wie Spinneweben“, das „lächelnd leicht“ verweht. Das Ich wird Teil der Natur, schwebt als kaum greifbare Spur weiter, bis es sich auflöst – ohne Schmerz, ohne Angst.
„Abschied“ ist ein leises, aber kraftvolles Gedicht, das in eindringlicher Bildsprache die Sehnsucht nach Entgrenzung, Ruhe und einem friedlichen Übergang vom Leben zum Tod ausdrückt. Gertrud Kolmar verbindet existenzielle Tiefe mit einer fast meditativen, resignativen Schönheit. Es ist ein poetischer Rückzug aus einer Welt, die als unerträglich empfunden wird – hin zu einem Zustand, in dem das Ich sich selbst endlich loslassen darf.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.