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Liebeslied

Von

Noch währt der Schmaus! Noch fließt der Wein!
Doch auf, vom Becher weg!
Das liebste Mädchen küßt mich heut
Im Europäerland.

Schon rauscht ihr leicht gehobner Fuß
Und kündigt sie mir an.
Heil, Phyllis, dir und deiner Brust
Und ihrem vollen Wuchs!

Ihr Antlitz glüht vor süßer Lust
Und herrscht mich zu sich hin!
Schon ist ihr sanftgeschwollner Mund
Von meinem Kusse heiß.

Sprich lächelnd Weisheit um dich her,
Mund, heiß von meinem Kuß,
Daß aller Welt Glückseligkeit
Gar nichts dagegen sei!

Die ihr nicht eben nüchtern sitzt
Beim bechervollen Tisch,
Flieht, flieht den Becher! Phyllis küßt
Den Durst nach Weine weg.

Willkommen, Herz, für mich gemacht!
Wenn seelenvoll ihr Blick
Von Wollust glüht, dann sink ich sanft
An ihre volle Brust.

Wenn nun mein trunknes Auge schwimmt,
Entzückung ohne Maß
Weit um mich her, dann bebt mein Herz
Zu ihrem Herzen hin.

Dann treten wir viel seliger
Als Könige daher
Und fühlen, daß dies Wahrheit sei.
Das geht durch Mark und Bein.

Und preist mit frohem Ungestüm
Der Bräut’gam und die Braut;
Er schaut auf uns nacheifernd hin
Und küßt sie feuriger,

Und drückt sie wilder an sein Herz
Und lispelt ihr ins Ohr:
„Sind wir den Göttern auch nicht gleich,
So lieben wir doch auch!“

Uns preist, voll Freuden einer Braut,
Die Mutter ihrem Sohn!
Sie drückt ihn an ihr Herz und spricht:
„Sei, wie dein Vater war!“

Nur uns gehört die Ewigkeit,
Wenn wir gestorben sind,
Damit der Enkelinnen Sohn
Versteh, was Liebe sei.

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Gedicht: Liebeslied von Friedrich Gottlieb Klopstock

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Liebeslied“ von Friedrich Gottlieb Klopstock ist ein leidenschaftliches, ekstatisches Bekenntnis zur körperlichen und seelischen Liebe. Es vereint Sinnlichkeit, philosophische Tiefe und feierliche Freude am Menschsein. Im Zentrum steht die Begegnung mit Phyllis – einem weiblichen Ideal, das nicht nur begehrt, sondern in ihrer Liebe geradezu vergöttlicht wird. Klopstocks Sprache ist dabei hoch emotional und voller Schwung, ganz im Stil des empfindsamen Rokoko und der frühen Empfindsamkeit.

Die Szene ist zunächst heiter und lebensnah: Während der Festschmaus noch andauert, erhebt sich das lyrische Ich vom „bechervollen Tisch“, weil eine viel größere Freude ihn ruft – der Kuss von Phyllis. Hier beginnt die Verklärung der Liebe als höchste Form menschlicher Erfüllung, als über dem Rausch des Weins stehende Leidenschaft. Ihre Schönheit und Sinnlichkeit werden detailreich beschrieben, doch nie vulgär, sondern stets von Bewunderung und emotionaler Tiefe getragen.

In Phyllis’ Kuss, in ihrem Blick und in der Verschmelzung zweier Körper sieht das lyrische Ich die wahre Glückseligkeit. Liebe wird als etwas Göttliches empfunden, das sogar „aller Welt Glückseligkeit“ übertrifft. In diesen Momenten ist das Paar den „Königen“ überlegen – sie wandeln wie Auserwählte auf Erden. Die Liebe wird zur alles durchdringenden Wahrheit, die „durch Mark und Bein“ geht, zur existenziellen Kraft, die das Leben überstrahlt.

Die Wirkung dieser Liebe strahlt auch auf andere aus: Der Bräutigam küsst seine Braut inniger, die Mutter preist das liebende Paar und mahnt zur Nachahmung. Liebe wird so zu einem Vorbild, ja zu einer Art sittlicher Instanz – ein Ideal, das weitergegeben werden soll, sogar über den Tod hinaus. In der letzten Strophe greift Klopstock das Motiv der Unsterblichkeit auf: Die Liebenden erhalten die „Ewigkeit“, damit zukünftige Generationen „versteh’n, was Liebe sei“.

„Liebeslied“ ist daher mehr als ein klassisches Liebesgedicht. Es ist eine Feier der körperlichen Vereinigung als Ausdruck seelischer Tiefe und als Manifest einer Liebe, die über das Individuelle hinausgeht. Klopstock erhebt die persönliche Leidenschaft zu einem universellen Prinzip – Liebe als schöpferische, verbindende und letztlich unsterbliche Kraft.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.