Anrede
Ich atme Dich mit Sehnsucht, süßer Duft.
Wo Du verschwebst, ging aller Frühling enden,
Wo Du verhauchst, da weht von Schatten-Wänden
Herbstlichen Atems die bereifte Luft.
Ich schmecke Dich mit Andacht, edles Brot.
Wo Du gebrichst, gebricht es aller Fülle,
Wo Du ausgehst, da steigt aus ihrer Hülle
Von Überfluß die ungemeßne Not.
Ich fühle Dich mit Angst, geliebter Leib.
Die Dich verlor, die Hand, wird irrer Schwere
Tasten ringsum und tasten in die Leere
Nach allen Dings unfaßbarem Verbleib.
Ich höre Dich, o naher Stimme Sang.
Wo Du verstummst, wird jeder Laut in Schweigen
Hinsterben und vergeblich tief im Neigen
Das Ohr sich mühn nach einem kleinen Klang.
Ich sehe Dich mit Inbrunst, großes Licht,
Geleucht der Weite, Glanz aus tausend Fernen.
Wo Du verbleichst, kehrt unter blinden Sternen
In Dunkel das verlöschende Gesicht.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Anrede“ von Maria Luise Weissmann ist eine tiefgründige Auseinandersetzung mit der Existenz, der Wahrnehmung und dem Verlust einer geliebten Person. Das Gedicht ist in fünf Strophen aufgebaut, die jeweils einen anderen Sinn ansprechen: Atmen, Schmecken, Fühlen, Hören und Sehen. Jede Strophe beginnt mit einem intensiven Ausdruck der Sehnsucht und der Verehrung für das „Du“, gefolgt von einer Beschreibung des Schmerzes und der Leere, die durch den Verlust dieser Person entstehen würde. Die Wiederholung von „Wo Du verschwebst…“, „Wo Du verhauchst…“ usw. verstärkt diesen Verlustschmerz und die daraus resultierende, alles beherrschende Leere.
Die Metaphern, die Weissmann verwendet, sind reich und aussagekräftig. Das „Du“ wird als „süßer Duft“, „edles Brot“, „geliebter Leib“, „naher Stimme Sang“ und „großes Licht“ beschrieben. Diese Bilder repräsentieren die elementaren Bedürfnisse des Menschen nach Schönheit, Nahrung, Geborgenheit, Kommunikation und Orientierung. Der Verlust des „Du“ wird in jeder Strophe mit dem Verlust einer grundlegenden Lebenserfahrung gleichgesetzt. Der Frühling endet, die Fülle gebricht, die Hand tastet ins Leere, jeder Laut erstirbt und das Gesicht verbleicht in der Dunkelheit.
Die verwendete Sprache ist von großer Intensität und Emotionalität geprägt. Die Worte sind präzise gewählt und erzeugen ein starkes Gefühl der Sehnsucht, der Liebe und des Verlustes. Der Wechsel zwischen der ekstatischen Anrede und der klaren Beschreibung der daraus resultierenden Leere erzeugt eine Spannung, die den Leser tief berührt. Die Verwendung von Reimen und Rhythmus verleiht dem Gedicht eine musikalische Qualität, die die emotionale Wirkung noch verstärkt. Die Angst des Verlustes wird greifbar, und die Vorstellung der Welt ohne das „Du“ wirkt beklemmend.
Die Bedeutung des Gedichts liegt in seiner universellen Aussage über die Erfahrung von Liebe, Verlust und dem Wesen der menschlichen Existenz. Es spricht von der tiefen Verbundenheit zweier Seelen und dem Schmerz, der durch ihre Trennung entsteht. Das Gedicht ist eine Meditation über die Endlichkeit des Lebens und die Unvermeidlichkeit des Abschieds. Es lädt den Leser ein, über die Bedeutung von Beziehungen und die Wertschätzung des gegenwärtigen Moments nachzudenken. Durch die Nutzung der Sinneswahrnehmungen wird die Intensität des Gefühls verstärkt und die Bedeutung der geliebten Person für das eigene Leben deutlich gemacht.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.