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Für Wilhelmine von Zenge

Von

1.

Nicht aus des Herzens bloßem Wunsche keimt
Des Glückes schöne Götterpflanze auf.
Der Mensch soll mit der Mühe Pflugschar sich
Des Schicksals harten Boden öffnen, soll
Des Glückes Erntetag sich selbst bereiten,
Und Taten in die offnen Furchen streun.
Er soll des Glückes heil’gen Tempel sich
Nicht mit Hermeos Caduceus öffnen,
Nicht wie ein Nabob seinen trägen Arm
Nach der Erfüllung jedes Wunsches strecken.
Er soll mit etwas den Genuß erkaufen,
Wär’s auch mit des Genusses Sehnsucht nur.

2.

Nicht vor den Bogen tritt der Hirsch und wendet
Die Scheibe seiner Brust dem Pfeile zu –
Der Jäger muß in Feld und Wald ihn suchen,
Wenn er daheim mit Beute kehren will.
Er muß mit jedem Halme sich beraten,
Ob er des Hirsches leichte Schenkel trug,
An jedes Baums entreiftem Aste prüfen,
Ob ihn sein königlich Geweih berührt.
Er muß die Spur durch Tal und Berg verfolgen,
Sich rastlos durch des Moors Gestrüppe drehn,
Sich auf des Felsens Gipfel schwingen, sich
Hinab in tiefer Schlünde Absturz stürzen,
Bis in der Wildnis dicksten Mitternacht,
Er kraftlos neben seiner Beute sinkt.

3.

Der Schwalbe Nest hangt an des Knaben Hütte,
Allein die leichte Beute reizt ihn nicht.
Er will des Adlers königliche Brut,
Die in der Eiche hohem Wipfel thronet.
Denn das Erworbne – wär’s mit einem Tropfen Schweiß
Auch nur erworben, ist uns mehr, als das
Gefundne wert. Den wir mit unsers Lebens
Gefahr erretteten, der ist uns teuer,
So wie dem Araber der teuer ist,
Dem er ein Stück von seinem Brote gab.

4.

Am Ufer glänzt die helle Perlemutter,
Und des Agats buntfarbiges Gestein;
Allein der Perlenfischer achtet
Nicht was die Erde bietet, stürzt
Sich lieber in des Meeres Wogen, senkt
Sich nieder in die dunkle Tiefe, und
Kehrt stolzer, als der Bergmann mit dem Golde,
Mit einer Auster blassem Schleim zurück.

5.

Den Bergmann soll die Wünschelrute nicht
Mit blindem Glück an goldne Schätze führen,
Er soll durch Erd und Stein sich einen Weg
Bis zu des Erzes edlem Gange bahnen,
Damit er an dem Körnchen Gold, das er
Mit Schweiß erwarb, sich mehr, als an dem Schatze,
Den ihm die Wünschelrute zeigt, erfreue.

6.

Des Künstlers Meißel übt sich an Kristallen,
Die schon von selbst mit Farben spielen, nicht.
Er übt sich an dem rohen Kiesel, den
Des Knaben Fußtritt nicht verschonte, wühlet
Sich durch die Rinde, lockt den Feuerfunken,
Der in des Kiesels kaltem Busen schlummert,
In tausend Blitzen aus dem Stein hervor,
Und schmückt mit ihm der Herrscher Diadem.

7.

Nicht zu dem Schiffer schwimmet, aus der Ferne,
Des Indiers goldner Ueberfluß heran,
Er muß auf ungewissen Brettern sich
Dem trügerischen Meere anvertraun.
Er muß der Sandbank hohe Fläche meiden,
Der Klippe spitzgeschliffnen Dolch umgehn,
Sich mühsam durch der Meere Strudel winden,
Mit Stürmen kämpfen, sich mit Wogen schlagen,
Bis ihn der Küste sichrer Port empfängt.

8.

Auch zu der Liebe schwimmt nicht stets das Glück,
Wie zu dem Kaufmann nicht der Indus schwimmt.
Sie muß sich ruhig in des Lebens Schiff,
Des Schicksals wildem Meere anvertraun,
Dem Wind des Zufalls seine Segel öffnen,
Es an der Hoffnung Steuerruder lenken,
Und stürmt es, vor der Treue Anker gehn.
Sie muß des Wankelmutes Sandbank meiden,
Geschickt des Mißtrauns spitzen Fels umgehn,
Und mit des Schicksals wilden Wogen kämpfen,
Bis in des Glückes sichern Port sie läuft.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Für Wilhelmine von Zenge von Heinrich von Kleist

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Für Wilhelmine von Zenge“ von Heinrich von Kleist ist ein poetisches Vermächtnis, das zugleich als philosophische Reflexion über das Glück, die Liebe und den Wert menschlichen Strebens gelesen werden kann. In seiner Struktur besteht es aus einer Folge von Gleichnissen, die alle auf eine zentrale Idee hinauslaufen: Wahres Glück und tiefe Erfüllung sind nicht Ergebnis von Zufall oder passivem Wunsch, sondern Frucht harter Arbeit, Mühe und persönlicher Hingabe. Kleist wendet sich damit – in einem sehr persönlichen Ton – an Wilhelmine von Zenge, seine frühere Verlobte, und verknüpft individuelles Liebesglück mit einem allgemeinen Lebensprinzip.

Jede Strophe illustriert dieses Prinzip mit einer metaphorischen Szene: der Ackerbauer, der das Glück wie eine Saat ausbringen muss, der Jäger, der das Wild nur durch Ausdauer findet, der Knabe, der nicht die Schwalbe, sondern den Adler begehrt. Diese Bilder beschwören eine Welt, in der Wert durch Anstrengung entsteht. Besonders auffällig ist die wiederkehrende Verbindung von Gefahr, Entbehrung und Lohn: Der Perlentaucher, der Bergmann, der Künstler und der Seemann stehen für jene, die tief, weit oder mühsam suchen müssen, um etwas wirklich Kostbares zu gewinnen. Der Gedanke, dass das Erkämpfte wertvoller sei als das Gefundene, durchzieht das gesamte Gedicht.

In der letzten Strophe wendet Kleist dieses Prinzip explizit auf die Liebe an. Liebe erscheint nicht als Geschenk, sondern als Reise über ein unberechenbares Meer – sie verlangt Mut, Steuerkunst, Vertrauen und Ausdauer. Wer sie erringen will, muss Zufall und Widrigkeit trotzen. Der Vergleich mit dem Kaufmann, der sich auf dem Meer dem Glück entgegenarbeitet, unterstreicht den Gedanken: Auch in der Liebe ist das Ziel nur über das Wagnis erreichbar. Die Liebe wird zur Reise mit Hoffnung als Steuer, Treue als Anker und Misstrauen als Fels, der zu umschiffen ist.

Auffällig ist die konsequent antike Motivik, die Kleist verwendet: Bilder von Jagd, Seefahrt, Ackerbau, Bergbau und Handwerkskunst dienen als Allegorien eines idealisierten Lebensmodells, in dem nur durch Mühe, Risiko und Verzicht Sinn und Wert entstehen. Damit spiegelt das Gedicht auch ein romantisches Weltbild, in dem das Erleben von Tiefe, Gefahr und existenzieller Spannung den Menschen adelt.

„Für Wilhelmine von Zenge“ ist damit nicht nur eine moralische Ermahnung, sondern auch ein Zeugnis von Kleists innerer Haltung: der Wunsch, sich das Glück zu verdienen, anstatt es zu erwarten. Die persönliche Widmung an Wilhelmine verleiht dem Text eine melancholische Tiefe – als ob Kleist ihr damit sagen wolle, dass auch ihre Liebe nur dann Bestand haben könne, wenn sie gemeinsam durch das Ungewisse des Lebens segelten.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.