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Das letzte Lied

Von

Fernab am Horizont, auf Felsenrissen,
Liegt der gewitterschwarze Krieg getürmt.
Die Blitze zucken schon, die ungewissen,
Der Wandrer sucht das Laubdach, das ihn schirmt.
Und wie ein Strom, geschwellt von Regengüssen,
Aus seines Ufers Bette heulend stürmt,
Kommt das Verderben, mit entbundnen Wogen,
Auf alles, was besteht, herangezogen.

Der alten Staaten graues Prachtgerüste
Sinkt donnernd ein, von ihm hinweggespült,
Wie, auf der Heide Grund, ein Wurmgeniste,
Von einem Knaben scharrend weggewühlt;
Und wo das Leben, um der Menschen Brüste,
In tausend Lichtern jauchzend hat gespielt,
Ist es so lautlos jetzt, wie in den Reichen,
Durch die die Wellen des Kozytos schleichen.

Und ein Geschlecht, von düsterm Haar umflogen,
Tritt aus der Nacht, das keinen Namen führt,
Das, wie ein Hirngespinst der Mythologen,
Hervor aus der Erschlagnen Knochen stiert;
Das ist geboren nicht und nicht erzogen
Vom alten, das im deutschen Land regiert:
Das läßt in Tönen, wie der Nord an Strömen,
Wenn er im Schilfrohr seufzet, sich vernehmen.

Und du, o Lied, voll unnennbarer Wonnen,
Das das Gefühl so wunderbar erhebt,
Das, einer Himmelsurne wie entronnen,
Zu den entzückten Ohren niederschwebt,
Bei dessen Klang, empor ins Reich der Sonnen,
Von allen Banden frei, die Seele strebt;
Dich trifft der Todespfeil; die Parzen winken,
Und stumm ins Grab mußt du daniedersinken.

Erschienen, festlich, in der Völker Reigen,
Wird dir kein Beifall mehr entgegen blühn,
Kein Herz dir klopfen, keine Brust dir steigen,
Dir keine Träne mehr zur Erde glühn,
Und nur wo einsam, unter Tannenzweigen,
Zu Leichensteinen stille Pfade fliehn,
Wird Wanderern, die bei den Toten leben,
Ein Schatten deiner Schön‘ entgegenschweben.

Und stärker rauscht der Sänger in die Saiten,
Der Töne ganze Macht lockt er hervor,
Er singt die Lust, fürs Vaterland zu streiten,
Und machtlos schlägt sein Ruf an jedes Ohr, –
Und da sein Blick das Blutpanier der Zeiten
Stets weiter flattern sieht, von Tor zu Tor,
Schließt er sein Lied, er wünscht mit ihm zu enden,
Und legt die Leier weinend aus den Händen.

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Gedicht: Das letzte Lied von Heinrich von Kleist

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Das letzte Lied“ von Heinrich von Kleist ist eine düstere, visionäre Klage über den Zerfall der alten Weltordnung, die Machtlosigkeit der Kunst angesichts politischer und gesellschaftlicher Katastrophen sowie die Sehnsucht nach einem höheren, geistigen Trost, der jedoch unerreichbar bleibt. In fünf kunstvoll gebauten achtzeiligen Strophen entfaltet Kleist ein apokalyptisches Panorama, das von Krieg, Verfall, Sinnverlust und letztlich dem Verstummen des Dichters selbst geprägt ist.

Bereits die erste Strophe kündigt das Unheil an: Ein „gewitterschwarzer Krieg“ türmt sich am Horizont, die Natur gerät aus den Fugen. Die heraufziehende Gewalt wird in Naturbildern gespiegelt – Blitz, Regenflut, Sturm – und wirkt als unaufhaltsame, elementare Macht, die das Bestehende hinwegfegt. Der Einzelne („der Wandrer“) bleibt schutzlos zurück, sucht vergeblich ein Obdach. Das Verderben erscheint nicht nur als historisches Ereignis, sondern als Naturgewalt, die alles Existierende infrage stellt.

Die zweite Strophe beschreibt die Zerstörung der alten Ordnung: Die „grauen Prachtgerüste“ der Staaten stürzen ein wie nutzlose Bauten, ihre Größe erweist sich als Illusion. Kleist greift hier auf drastische Bilder zurück, etwa das „Wurmgeniste“ auf einer Heide – Sinnbild für das Kleinliche und Vergängliche menschlicher Zivilisation. An die Stelle des lebendigen, lichterfüllten Menschendaseins tritt ein „lautloses“ Totenreich, das an die Unterwelt (Kozytos) aus der griechischen Mythologie erinnert.

In der dritten Strophe tritt eine neue Generation auf – namenlos, düster, gleich einem Spukwesen aus Mythen. Sie ist weder „geboren“ noch „erzogen“ im alten Sinne, sondern erscheint aus dem Gewaltakt heraus. Kleist sieht in ihr keine Hoffnung, sondern eher ein Echo der Zerstörung: Ihre Sprache ist ein dumpfes, unverständliches „Seufzen“ wie Nordwind im Schilf. Damit wird die Idee eines humanistisch geprägten Neuanfangs verneint – die neue Zeit ist nicht erlösend, sondern unheimlich.

Die vierte Strophe ist der elegische Kern des Gedichts: Das Lied, das Sinn stiften, erheben und trösten konnte, stirbt mit der alten Welt. Es wird „von den Parzen“ – den Schicksalsgöttinnen – in den Tod gerufen. Kleist beschreibt die Musik als fast göttliche Gabe, doch sie wird nun ins Grab gesenkt, „stumm“ und ohne Wirkung. Die Hoffnung auf Schönheit und Trost durch Kunst wird hier endgültig enttäuscht.

Die letzte Strophe zeigt den Dichter ein letztes Mal in Aktion: Er singt nochmals vom Heldentum, vom Vaterland, aber seine Töne verhallen wirkungslos. Die Menschen hören nicht mehr – das Blutpanier (Symbol für Krieg und Gewalt) flattert weiter, unbeeinflusst vom Gesang. Am Ende legt der Sänger die „Leier“ – das klassische Symbol der Dichtung – weinend aus der Hand. Der Titel „Das letzte Lied“ ist somit wörtlich zu nehmen: Es ist das Ende der Poesie als Lebensmacht, der Dichter verstummt angesichts einer Welt, in der weder Schönheit noch Sinn zu wirken vermögen.

Kleist erschafft mit diesem Gedicht eine düstere Weltklage, die tiefe historische Verunsicherung (vermutlich geprägt von den Napoleonischen Kriegen) mit metaphysischer Verzweiflung verbindet. Es ist eine poetische Abschiedsgeste – vom Glauben an Fortschritt, an Kunst, an Humanität – und zugleich ein erschütterndes Zeugnis innerer Zerrissenheit und Weltschmerz.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

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