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Wiegenlied für Irene

Von

Einen Sommer lang
Goldne Glocke schwang,
Rief zu immer holderem Tag.
Schlugst das Aug du auf,
Lag mein Kuss darauf,
Und dein Herz in meinen Händen lag.

Einen Sommer lang
Lied und Lachen klang,
Und wir waren ganz vor Glück entbrannt.
Schlang und Eidechs kam,
Und gezähmt sie nahm
Süßigkeit aus deiner guten Hand.

Einen Sommer lang
Mit dem Engel rang
Ich, dass ewig dieser Sommer sei.
Ach, ich war zu schwach,
Und im Herbste brach
Sensenmann das Ährenglück entzwei.

Dieser Sommer war
Voll wie hundert Jahr,
Die des Gottes Gnadenblut durchdrang.
Schenke sein Geschick
Unsrem Kind ein Glück
Viele, viele, viele Sommer lang.

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Gedicht: Wiegenlied für Irene von Klabund

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Wiegenlied für Irene“ von Klabund ist eine zarte, zugleich melancholisch getönte Erinnerung an einen vergangenen, idealisierten Sommer der Liebe, der schließlich durch den Tod überschattet wird. In der Form eines Wiegenlieds, adressiert an ein Kind – vermutlich die Tochter Irene –, verwebt der Sprecher persönliche Erinnerung mit einem Wunsch für das zukünftige Leben des Kindes. Dabei entsteht eine poetische Verbindung zwischen Liebe, Natur, Leben und Vergänglichkeit.

In den ersten beiden Strophen wird der Sommer als Zeit intensiven Glücks geschildert. Die wiederholte Wendung „einen Sommer lang“ betont die Dauer und Fülle dieser Phase, die voller Licht, Zärtlichkeit und fast märchenhafter Harmonie erscheint. Die Bilder sind warm und sinnlich: „Goldne Glocke“, „mein Kuss“, „Süßigkeit aus deiner guten Hand“. Selbst Tiere wie „Schlang und Eidechs“ erscheinen friedlich und gezähmt, was das Paradieshafte dieser Erinnerung unterstreicht.

Die dritte Strophe bringt die Wende: Der Sprecher beschreibt einen „Kampf mit dem Engel“, ein klassisches Motiv der Grenzerfahrung zwischen Leben und Tod, zwischen Mensch und Schicksal. Doch der Kampf geht verloren. Der „Sensenmann“ – der Tod – erscheint im Herbst, also symbolisch am Ende des Lebenszyklus, und zerstört das „Ährenglück“, das für Liebe, Fruchtbarkeit und Erfüllung steht. Der Verlust ist nicht nur der des Sommers, sondern auch der einer geliebten Person.

In der abschließenden Strophe richtet sich der Blick vom Vergangenen ins Zukünftige: Der verlorene Sommer wird als überzeitlich bedeutungsvoll beschrieben, „voll wie hundert Jahr“. Die Bitte an das Schicksal, dem Kind viele solcher Sommer zu schenken, ist zugleich Trost und Hoffnung. Es ist ein stilles Gebet darum, dass das Kind das Glück erfahren möge, das dem Sprecher nur vergänglich beschieden war.

Klabund gelingt in diesem Gedicht eine berührende Verbindung aus Liebes- und Trauerlied, Natur- und Lebensbetrachtung. Die sanfte Sprachmelodie des Wiegenlieds kontrastiert mit der Tiefe der Emotionen und der Erfahrung des Verlusts. So wird „Wiegenlied für Irene“ zu einem stillen Zeugnis gelebter Liebe, schmerzhafter Vergänglichkeit und einer zärtlich hoffenden Weitergabe an die nächste Generation.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.