Obdachlosenasyl
Ich war’n junges Ding, man immer frisch und flink.
Da kam von Borsig einer, der hatte Zaster und Grips.
So hübsch wie er war keiner mit seinem roten Schlips.
Er kaufte mir ’nen neuen Hut.
Wer weiß, wie Liebe tut.
Berlin, wie süß ist dein Paradies!
Unsere Vaterstadt schneidige Mädchen hat.
Schwamm drüber.
Tralalalá.
Ich immer mit’n mit. Da ging der Kerl verschütt.
Als ich im achten schwanger des Nacht bei Wind und Sturm,
schleppt‘ ich nich auf’n Anger, vergrub das arme Wurm.
Es schrie mein Herz, es brannte mein Blut.
Wer weiß, wie Liebe tut.
Berlin, wie süß ist dein Paradies!
Unsere Vaterstadt schneidige Mädchen hat.
Schwamm drüber.
Tralalalá.
Jetzt schieb‘ ich auf’n Strich. Ich hab‘ ’nen Ludewich.
In einem grünen Wagen des Nachts um halber zwee,
da ham‘ se mich jefahren in die Charité.
Verwest mein Herz, verfault mein Blut.
Wer weiß, wie Liebe tut.
Berlin, wie süß ist dein Paradies!
Unsere Vaterstadt schneidige Mädchen hat.
Schwamm drüber.
Tralalalá.
Krank bin ich allemal. Es ist mir allens ejal.
Der Weinstock, der trägt Reben, und kommt ’n junger Mann,
ich schenk‘ ihm was fürs Leben, daß er an mich denken kann.
Quecksilber und Absud,
wer weiß, wie Liebe tut.
Berlin, wie süß ist dein Paradies!
Unsere Vaterstadt schneidige Mädchen hat.
Schwamm drüber.
Tralalalá.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Obdachlosenasyl“ von Klabund zeichnet in drastischer, volkstümlicher Sprache das tragische Leben einer jungen Frau, die durch Verführbarkeit, gesellschaftliche Missachtung und ökonomische Not in Elend und Krankheit stürzt. Es ist ein eindringliches soziales Zeitbild der Berliner Unterschicht im frühen 20. Jahrhundert, das mit bitterer Ironie das Elend der Protagonistin kommentiert.
Der Text ist in vier Strophen aufgebaut, die jeweils mit einem scheinbar fröhlichen Refrain enden: „Berlin, wie süß ist dein Paradies!“ Dieser Refrain kontrastiert scharf mit dem realen Leid, das zuvor geschildert wurde. So entsteht eine bittere Ironie, die das „Paradies“ als zynische Farce entlarvt. Das Leben der Sprecherin beginnt mit jugendlicher Frische, einer Liebesbeziehung zu einem vermeintlich wohlhabenden Mann – doch schnell zerbricht die Illusion, als dieser verschwindet und sie mit einem Kind im Stich lässt.
Das Motiv der vergeblichen Liebe („Wer weiß, wie Liebe tut“) zieht sich durch alle Strophen und wird zum Ausdruck für Schmerz, Enttäuschung und seelisches wie körperliches Leiden. Die Protagonistin verliert ihr Kind, gerät in die Prostitution, wird krank – vermutlich an Syphilis – und resigniert schließlich vollständig. Der medizinische Begriff „Quecksilber“ (eine gängige Behandlung gegen Geschlechtskrankheiten) verstärkt das Bild der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit.
Klabund verwendet bewusst eine Berliner Mundart und Umgangssprache, um Authentizität und Nähe zur realen Lebenswelt der Unterschicht zu schaffen. Der lakonische Tonfall („Schwamm drüber. Tralalalá“) zeigt die bittere Gewöhnung an das eigene Elend – eine Art Schutzmechanismus, um mit den traumatischen Erfahrungen umzugehen. Die abschließende Gabe an einen „jungen Mann“ („daß er an mich denken kann“) wirkt wie eine letzte, traurige Geste von Menschlichkeit inmitten völliger Verrohung.
„Obdachlosenasyl“ ist somit ein gesellschaftskritisches Gedicht, das die Schattenseiten der Großstadt Berlin offenlegt. Klabund gelingt es, Mitleid zu wecken, ohne in Sentimentalität zu verfallen. Vielmehr zeigt er, wie soziale Kälte, Ausgrenzung und Armut das Individuum zerstören können – hinter dem trügerischen Glanz des städtischen „Paradieses“.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.