Mein Urenkel hat mich verstoßen
Mein Urenkel hat mich verstoßen,
Mein Vater sich geweigert,
Mich zu zeugen.
Es ist
Um
Süßwasserpolyp zu werden
Sein Innerstes
Nach außen zu stülpen.
Mit den Herzen – zu verdauen
Mit der Galle – zu träumen
Mit dem Magensafte
Seele zu sabbern.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Mein Urenkel hat mich verstoßen“ von Klabund ist ein kurzer, radikal verfremdeter Text, der mit biologischen, surrealen und grotesken Bildern eine tiefgreifende Entfremdungserfahrung ausdrückt. Es thematisiert auf paradoxe Weise Identitätsverlust, existenzielle Isolation und die Umkehr gewohnter Ordnung – sowohl in familiären als auch in körperlich-seelischen Zusammenhängen.
Gleich zu Beginn wird ein Bruch mit genealogischer und menschlicher Kontinuität deutlich gemacht: Der Urenkel „verstößt“, der Vater „weigert sich“, zu zeugen – Vergangenheit und Zukunft verweigern dem lyrischen Ich ihre Verbindung. Es bleibt als isolierte, wurzellose Existenz zurück. In dieser Negation von Herkunft und Nachkommenschaft verliert das Ich seine Verankerung in der menschlichen Geschichte. Die Formulierung „Es ist / Um / Süßwasserpolyp zu werden“ markiert eine groteske Wendung: Das Ich flüchtet sich in eine bizarre Metamorphose – nicht zum Menschen, sondern zu einem niedrig entwickelten Organismus.
Die Umkehr des Inneren nach außen – eine Eigenart mancher einfacher Lebewesen – wird zum Symbol für radikale Verletzbarkeit, völlige Offenheit, vielleicht auch für ein perverses Streben nach Durchlässigkeit oder Wahrheit. Doch in dieser Umkehr geraten auch die inneren Funktionen durcheinander: „Mit den Herzen – zu verdauen / Mit der Galle – zu träumen / Mit dem Magensafte / Seele zu sabbern.“ Diese Verse verknüpfen Körperliches mit Seelischem auf absurde, fast dadaistische Weise. Die Sprache wirkt grotesk und komisch, ist zugleich aber verstörend.
Klabund spielt in diesem Text mit Auflösungstendenzen: von Sprache, von Identität, von Menschsein. Es ist ein poetischer Ausdruck innerer Zersetzung und einer Welt, in der vertraute Ordnungen nicht mehr greifen. Die biologischen Metaphern entziehen sich dabei jeder Romantisierung – vielmehr spiegelt sich in ihnen eine tiefe Irritation über das Verhältnis von Körper, Geist und Gesellschaft. So wird das Gedicht zu einer scharfen, bitteren Miniatur über Entwurzelung und Selbstverlust – radikal, rätselhaft, und in seiner Kürze doch verstörend tief.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.