Stiller Augenblick
Fliehendes Jahr, in duftigen Schleiern
Streifend an abendrötlichen Weihern,
Wallest du deine Bahn;
Siehst mich am kühlen Waldsee stehen,
Wo an herbstlichen Uferhöhen
Zieht entlang ein stummer Schwan.
Still und einsam schwingt er die Flügel,
Tauchet in den Wasserspiegel,
Hebt den Hals empor und lauscht;
Taucht zum andern Male nieder,
Richtet sich auf und lauschet wieder,
Wie’s im flüsternden Schilfe rauscht.
Und in seinem Tun und Lassen
Will’s mich wie ein Traum erfassen,
Als ob’s meine Seele wär,
Die verwundert über das Leben,
Über das Hin- und Widerschweben,
Lugt‘ und lauschte hin und her.
Atme nur in vollen Zügen
Dieses friedliche Genügen
Einsam auf der stillen Flur!
Und hast du dich klar empfunden,
Mögen enden deine Stunden,
Wie zerfließt die Schwanenspur!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Stiller Augenblick“ von Gottfried Keller ist eine feinfühlige Meditation über Vergänglichkeit, Selbstwahrnehmung und die stille Schönheit der Natur. In ruhigen, fließenden Versen beschreibt Keller eine herbstliche Szene am See, die sich zu einem Moment tiefer seelischer Erkenntnis verdichtet. Der Wechsel der Jahreszeiten, das Bild des Schwans und die Stille der Umgebung bilden den Rahmen für eine poetische Selbstbesinnung.
Schon zu Beginn wird das Jahr personifiziert und mit Schleiern und Abendlicht verklärt: Es „flieht“ in sanften Bildern dahin, ohne Lärm, fast schwebend. Die Natur ist nicht stürmisch oder bedrohlich, sondern melancholisch und still. Das lyrische Ich steht am See, beobachtet – und wird dabei selbst zum stillen Teil dieser Landschaft. Im Zentrum des Geschehens: ein Schwan, dessen Bewegung zur Metapher für innere Vorgänge wird.
Der Schwan gleitet über das Wasser, taucht ein, hebt den Hals, lauscht – eine Abfolge von Gesten, die weder ziellos noch zielgerichtet erscheinen, sondern von einer geheimnisvollen Achtsamkeit durchdrungen sind. Diese Bewegungen wecken im lyrischen Ich den Eindruck, als handle es sich um ein Spiegelbild der eigenen Seele. Die Grenzen zwischen äußerer Beobachtung und innerer Empfindung beginnen zu verschwimmen.
In der dritten Strophe wird diese Verschmelzung direkt ausgesprochen: Das Tun des Schwans wirkt wie ein Traum, der das Ich „erfasst“. Es scheint, als blicke man in sich selbst hinein, staunend, nachdenklich, beinahe kindlich verwundert. Die scheinbare Einfachheit des Naturbildes öffnet sich zu einer tieferen, existenziellen Frage nach dem Leben, seinem Kommen und Gehen, seinem Sinn.
Die letzte Strophe ruft dazu auf, diesen Moment der Klarheit in sich aufzunehmen – das „friedliche Genügen“ eines einfachen, stillen Daseins. Wenn man sich selbst so „klar empfunden“ hat, darf das Leben auch leise enden, wie die kaum sichtbare Spur eines Schwans auf dem Wasser. Diese Schwanenspur steht am Schluss als zartes Symbol für ein erfülltes, aber nicht aufdringliches Leben – ein poetischer Wunsch nach einem sanften, harmonischen Vergehen.
„Stiller Augenblick“ ist ein kontemplatives, lyrisch ruhiges Gedicht, das mit großer Zartheit über Selbstwahrnehmung, Natur und das stille Fließen der Zeit nachdenkt. Gottfried Keller gelingt es, die äußere Welt und das innere Erleben auf eine Weise zu verbinden, die still, aber tief wirkt – wie der Schwan, der lautlos seine Bahn zieht.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.