Schifferliedchen
Schon hat die Nacht den Silberschrein
Des Himmels aufgetan;
Nun spült der See den Widerschein
Zu dir, zu dir hinan!
Und in dem Glanze schaukelt sich
Ein leichter dunkler Kahn;
Der aber trägt und schaukelt mich
Zu dir, zu dir hinan!
Ich höre schon den Brunnen gehn
Dem Pförtlein nebenan,
Und dieses hat ein gütig Wehn
Von Osten aufgetan.
Das Sternlein schießt, vom Baume fällt
Das Blust in meinen Kahn;
Nach Liebe dürstet alle Welt,
Nun, Schifflein, leg‘ dich an!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Schifferliedchen“ von Gottfried Keller beschreibt in liedhafter, sanft rhythmischer Sprache die nächtliche Fahrt eines lyrischen Ichs über einen See hin zu einer geliebten Person. Die Natur ist dabei nicht nur Kulisse, sondern aktiver Ausdruck innerer Sehnsucht und romantischer Bewegung. Die gesamte Szenerie ist durchdrungen von Stille, Licht und Erwartung.
Die erste Strophe eröffnet mit einer fast sakralen Metapher: Der Nachthimmel wird als „Silberschrein“ bezeichnet – ein Bild, das den Himmel nicht nur als Schönheit, sondern auch als etwas Kostbares, Erhabenes erscheinen lässt. Der See spiegelt diesen Glanz und bringt ihn zum Ufer – zu der Geliebten. Diese Bewegung des Lichts wird so zur symbolischen Vorankündigung der Annäherung des Ichs an die Geliebte.
Der Kahn, in dem das lyrische Ich sich schaukeln lässt, wirkt leicht und träumerisch – fast scheint die Bewegung über das Wasser ein Schweben zu sein. Das Motiv der Fahrt zur Geliebten wird hier durch einfache, musikalische Sprache und Wiederholungen wie „Zu dir, zu dir hinan!“ emotional aufgeladen. Diese Wiederholung verstärkt die Sehnsucht und zugleich die Hoffnung auf baldige Vereinigung.
Die dritte Strophe bringt eine leise Öffnung der Welt: Das Plätschern eines Brunnens und das sich öffnende Pförtlein deuten auf ein Erwachen, ein Willkommen hin. Das „gütige Wehn“ von Osten hat etwas Zartes, beinahe Magisches – es scheint, als werde die Nacht selbst zur Komplizin der Liebenden. In der letzten Strophe fallen Natur und Gefühl vollends zusammen: Ein Stern fällt, Blüten rieseln in den Kahn, und die ganze Welt scheint vom Verlangen nach Liebe erfasst. Mit dem abschließenden Wunsch „Nun, Schifflein, leg‘ dich an!“ erreicht das Gedicht seinen Höhepunkt – in der hoffnungsvollen Erwartung, dass Sehnsucht und Fahrt bald ihr Ziel erreichen.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.