Sehnsucht nach dem Winter
Die Stürme befahren die Luft, verhüllen den Himmel in Wolken,
Und jagen donnernde Ströme durchs Land;
Die Wälder stehen entblösst: das Laub der geselligen Linde
Wird weit umher in die Thäler geführt.
Der Weinstock, ein dürres Gesträuch – – Was klag‘ ich den göttlichen Weinstock?
Auf! Freunde, trinket sein schäumendes Blut,
Und lasst den Autumnus entfliehn mit ausgeleeretem Füllhorn,
Und ruft den Winter im Tannenkranz her.
Er deckt den donnernden Strom mit diamantenem Schilde,
Der alle Pfeile der Sonne verhöhnt,
Und füllt mit Blüthe den Wald, dass alle Thiere sich wundern,
Und säet Lilien über das Thal.
Dann zittern die Bräute nicht mehr in wankender Gondel; sie fliegen
Beherzt auf gleitenden Wagen dahin:
Der Liebling wärmet sich falsch im Hermeline der Nymphe,
Die Nymphe lächelt, und wehret ihm falsch.
Dann baden die Knaben nicht mehr, und schwimmen nicht unter den Fischen;
Sie gehn auf harten Gewässern einher,
Und haben Schuhe von Stal: der Mahn der freundlichen Venus
Verbarg der Blitze Geschwindigkeit drein.
O Winter! eile voll Zorn, und nimm den kältesten Ostwind,
Und treib die Krieger aus Böhmen zurück,
Und meinen erstarreten Kleist. Noch hab‘ ich ihm seine Lykoris,
Und Wein von mürrischem Alter bewahrt.
Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Sehnsucht nach dem Winter“ von Karl Wilhelm Ramler drückt eine tiefe Sehnsucht nach der kalten Jahreszeit aus und kontrastiert sie mit dem Abschied vom Herbst. Es beginnt mit einer Beschreibung der stürmischen Herbstlandschaft, die den Himmel verdunkelt und die Blätter von den Bäumen reißt. Diese Unruhe des Herbstes, mit ihren stürmischen Elementen und dem Abfall der Natur, wird als Hintergrund für die Sehnsucht nach einer stabilisierenderen, ja, geradezu verzaubernden Winterlandschaft gesetzt. Der Dichter malt ein Bild des Übergangs, das von der Vergänglichkeit und der Auflösung des Herbstes geprägt ist.
Im zweiten Abschnitt wendet sich das Gedicht an Freunde und fordert sie auf, den Herbst mit seinem Wein zu genießen, aber gleichzeitig den Winter herbeizurufen. Der Winter wird als eine Jahreszeit beschrieben, die den tobenden Strom mit einem „diamantenem Schild“ bedeckt und die Natur in eine neue, blühende Pracht verwandelt, die im Sommer nicht möglich ist. Die Natur des Winters ist hier also ambivalent: Sie ist eisig, aber auch schützend und transformativ. Ramler stellt den Winter als eine Zeit der Ruhe und der Überwindung dar, in der sogar die Gefahren des Herbstes, wie die stürmischen Gewässer, gebändigt werden.
Die dritte Strophe beschreibt eine Reihe von Szenen, in denen die Winterlandschaft die zuvor beschriebene Herbstwelt ersetzt. So werden romantische Bilder des Sommers, wie das Baden der Knaben in den Flüssen, mit Winterbildern kontrastiert, wie dem Eislaufen und der stabilen Natur. Der Winter wird hier zu einer Zeit der Verwandlung, in der die Natur auf besondere Weise funktioniert. Sogar die mythologischen Gestalten der Venus werden in diese Winterwelt integriert, was die Jahreszeit zusätzlich verklärt. Der Winter erscheint als eine Welt, in der das Leben in anderer Form weitergeht und in der neue Freuden entdeckt werden können.
Die abschließenden Verse wenden sich direkt an den Winter und fordern ihn auf, mit seinem „kältesten Ostwind“ zu kommen. Dies ist nicht nur eine Bitte um die Jahreszeit selbst, sondern auch eine Bitte um Frieden und das Ende von Krieg und Leid. Die Erwähnung von Kleist, einem Zeitgenossen Ramlers, deutet auf eine persönliche Ebene der Sehnsucht, die sich auf Freundschaft und Bewahrung bezieht. Das Gedicht schließt mit dem Versprechen, Wein und Liebe für Kleist zu bewahren, was die Sehnsucht nach dem Winter mit der Sehnsucht nach Geborgenheit und Freundschaft verbindet. Das Gedicht ist somit eine Ode an den Winter und an die damit verbundenen Hoffnungen und Sehnsüchte.
Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.
Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.