Die Zeit geht nicht
Die Zeit geht nicht, sie stehet still,
Wir ziehen durch sie hin;
Sie ist ein Karavanserai,
Wir sind die Pilger drin.
Ein Etwas, form- und farbenlos,
Das nur Gestalt gewinnt,
Wo ihr drin auf und nieder taucht,
Bis wieder ihr zerrinnt.
Es blitzt ein Tropfen Morgentau
Im Strahl des Sonnenlichts;
Ein Tag kann eine Perle sein
Und ein Jahrhundert nichts.
Es ist ein weißes Pergament
Die Zeit und Jeder schreibt
Mit seinem roten Blut darauf
Bis ihn der Strom vertreibt.
An dich, du wunderbare Welt,
Du Schönheit ohne End‘,
Auch ich schreib meinen Liebesbrief
Auf dieses Pergament.
Froh bin ich, daß ich aufgeblüht
In deinem runden Kranz;
Zum Dank trüb‘ ich die Quelle nicht
Und lobe deinen Glanz!
Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Die Zeit geht nicht“ von Gottfried Keller ist eine philosophische Reflexion über das Wesen der Zeit und das menschliche Dasein innerhalb ihres Rahmens. In klarer, bildreicher Sprache entwirft Keller ein poetisches Zeitverständnis, das nicht von Vergänglichkeit und Verlust, sondern von innerer Bedeutung, Gestaltungsfreiheit und dankbarer Gegenwartserfahrung geprägt ist.
Bereits in der ersten Strophe wird eine zentrale Umkehrung etabliert: Nicht die Zeit bewegt sich – wie es umgangssprachlich oft heißt – sondern der Mensch bewegt sich durch sie hindurch. Die Zeit ist „ein Karavanserai“, also ein Rastplatz auf einer Reise, während wir als „Pilger“ durch sie ziehen. Dieses Bild verleiht der Zeit etwas Statisches, Raumartiges, das wir gestalten und durchleben, anstatt passiv von ihr mitgerissen zu werden.
Die zweite und dritte Strophe vertiefen diese Vorstellung. Zeit erhält nur dort Gestalt, wo der Mensch lebt, handelt und empfindet. Sie ist an sich formlos, aber wir „tauchen“ auf und nieder in ihr, bis wir wieder verschwinden. Dabei ist ihre Qualität nicht von Dauer abhängig: Ein einziger Tag kann glänzen wie eine „Perle“, während ein ganzes Jahrhundert bedeutungslos sein kann. Die Zeit wird so zum Spiegel innerer Intensität und Bedeutsamkeit.
In der vierten Strophe erscheint die Zeit als ein „weißes Pergament“, auf dem jeder Mensch mit seinem „roten Blut“ schreibt – ein kraftvolles Bild für das Leben als persönliches Zeugnis, als aktiver Ausdruck. Die Farbe Blut verweist auf Leben, Leidenschaft, aber auch Endlichkeit. Doch der Schreibakt ist ein schöpferischer, nicht passiver: Wir hinterlassen eine Spur.
Die letzten beiden Strophen wenden sich an die „wunderbare Welt“, die Schönheit der Schöpfung. Das lyrische Ich schreibt einen „Liebesbrief“ an sie, bekennt Dankbarkeit für das eigene Dasein im „Kranz“ des Lebens. Der abschließende Wunsch, die Quelle nicht zu trüben, sondern ihren Glanz zu loben, unterstreicht Kellers ethisch-poetisches Weltbild: Leben bedeutet, bewusst und verantwortungsvoll mit der Zeit und der Welt umzugehen.
„Die Zeit geht nicht“ ist ein meditatives, zugleich lebensbejahendes Gedicht. Gottfried Keller gelingt es, das abstrakte Konzept der Zeit mit sinnlichen Bildern und existenzieller Tiefe zu füllen – als Raum für Bedeutung, Schönheit und menschliche Handschrift.
Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.
Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.