Abendlied
Augen, meine lieben Fensterlein,
Gebt mir schon so lange holden Schein,
Lasset freundlich Bild um Bild herein:
Einmal werdet ihr verdunkelt sein!
Fallen einst die müden Lider zu,
Löscht ihr aus, dann hat die Seele Ruh;
Tastend streift sie ab die Wanderschuh‘,
Legt sich auch in ihre finstre Truh.
Noch zwei Fünklein sieht sie glimmend stehn,
Wie zwei Sternlein innerlich zu sehn,
Bis sie schwanken und dann auch vergehn,
Wie von eines Falters Flügelwehn.
Doch noch wandl‘ ich auf dem Abendfeld,
Nur dem sinkenden Gestirn gesellt;
Trinkt, o Augen, was die Wimper hält,
Von dem goldnen Überfluß der Welt!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Abendlied“ von Gottfried Keller beschreibt in melancholischer und nachdenklicher Weise den Übergang von Leben zu Tod und die Unvermeidlichkeit des Vergehens. Zu Beginn wendet sich der Sprecher an seine „Augen“, die als „liebe Fensterlein“ dargestellt werden. Diese Metapher hebt die Bedeutung der Augen als Wahrnehmungsorgane hervor, die dem Sprecher die Welt zeigen. Doch gleichzeitig wird auf die Vergänglichkeit des Lebens hingewiesen: „Einmal werdet ihr verdunkelt sein“, was den unausweichlichen Verlust der Fähigkeit zu sehen und die Annäherung des Todes ankündigt.
Im nächsten Abschnitt wird der Augenblick des Lebensendes metaphorisch dargestellt: Wenn „die müden Lider zu“ fallen, wird das Leben erloschen sein. Die „Seele“ tritt dann ihre letzte Ruhe an, indem sie die „Wanderschuh‘“ abstreift, ein Bild für das Verlassen der Welt und der physischen Existenz. Die „finstre Truh“ symbolisiert das Grab, in das die Seele sich zurückzieht. Der Übergang von Leben zu Tod wird als ein sanfter, beinahe friedlicher Prozess dargestellt, bei dem die Seele in die Dunkelheit zurückkehrt.
Im weiteren Verlauf des Gedichts sieht die Seele „noch zwei Fünklein“ oder „zwei Sternlein“, die als die letzten Funken des Lebens interpretiert werden, die verblassen und vergehen, ähnlich wie das „Flügelwehn“ eines Falters. Diese winzigen Lichter symbolisieren die letzten Momente des Lebens, bevor auch sie erlöschen und die Dunkelheit des Todes endgültig eintritt. Der Vergleich mit dem Falter, der zerbrechlich und vergänglich ist, unterstreicht die Zerbrechlichkeit des Lebens und das schnelle Vergehen der Zeit.
Am Ende des Gedichts beschreibt der Sprecher, dass er noch auf dem „Abendfeld“ wandelt, als Teil des natürlichen Zyklus der abendlichen Dämmerung. Er scheint sich mit dem sinkenden Stern zu identifizieren, was die Vergänglichkeit und den natürlichen Rhythmus des Lebens betont. Doch bevor die Dunkelheit vollständig eintritt, fordert der Sprecher seine Augen auf, noch einmal den „goldnen Überfluß der Welt“ zu genießen. Dies stellt eine letzte Aufforderung dar, das Leben in seiner Fülle und Schönheit zu ergreifen, solange es noch möglich ist. Das Gedicht endet mit einem fast feierlichen, aber auch melancholischen Aufruf, das Leben zu schätzen, bevor es endgültig zu Ende geht.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.