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An den Dohmherrn von Rochow

Von

als er gesagt hatte, die Liebe müsse sie gelehret haben, so schöne Verse zu machen

Kenner von dem saphischen Gesange!
Unter deinem weissen Ueberhange
Klopft ein Herze, voller Gluth in dir!
Von der Liebe ward es unterrichtet
Dieses Herze, aber ganz erdichtet
Nennst du sie die Lehrerin von mir!

Meine Jugend ward gedrückt von Sorgen,
Seufzend sang an manchem Sommermorgen
Meine Einfalt ihr gestammelt Lied;
Nicht dem Jüngling thöneten Gesänge,
Nein, dem Gott, der auf der Menschen Menge,
Wie auf Ameishaufen niedersieht!

Ohne Regung, die ich oft beschreibe,
Ohne Zärtlichkeit ward ich zum Weibe,
Ward zur Mutter! wie im wilden Krieg,
Unverliebt ein Mädchen werden müßte,
Die ein Krieger halb gezwungen küßte,
Der die Mauer einer Stadt erstieg.

Sing ich Lieder für der Liebe Kenner:
Dann denk ich den zärtlichsten der Männer,
Den ich immer wünschte, nie erhielt;
Keine Gattin küßte je getreuer,
Als ich in der Sapho sanftem Feuer
Lippen küßte, die ich nie gefühlt!

Was wir heftig lange wünschen müssen,
Und was wir nicht zu erhalten wissen,
Drückt sich tiefer unserm Herzen ein;
Rebensaft verschwender der Gesunde,
Und erquickend schmeckt des Kranken Munde
Auch im Traum der ungetrunkne Wein.

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Gedicht: An den Dohmherrn von Rochow von Anna Louisa Karsch

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „An den Dohmherrn von Rochow“ von Anna Louisa Karsch ist eine poetische Antwort auf die Behauptung, ihre schönen Verse seien durch die Liebe inspiriert. Mit eindrucksvoller Offenheit und dichterischer Selbstreflexion setzt sich Karsch in diesem Gedicht mit dem Verhältnis von persönlicher Lebenserfahrung, Dichtung und Liebe auseinander – und entwirft zugleich ein weibliches Selbstbild, das sich den gängigen Vorstellungen entzieht.

Bereits in der ersten Strophe stellt sie dem „Kenner“ der Poesie – dem angesprochenen Dohmherrn – eine Art sanften Widerspruch entgegen. Zwar gesteht sie, dass sein Herz wohl von Liebe erfüllt sei, doch sie selbst habe nicht durch Liebeserfahrung, sondern durch Schmerz, Entbehrung und innere Regung zur Dichtung gefunden. Ihre „Lehrerin“ sei nicht die Liebe, sondern eher ein Dasein voller Mühsal und seelischer Tiefe gewesen.

Besonders eindrucksvoll ist die dritte Strophe, in der Karsch ihr eigenes Schicksal als Frau schildert: Sie wurde „ohne Zärtlichkeit“ zur Ehefrau und Mutter, ein Leben fern romantischer Ideale. Die drastische Metapher eines Mädchens, das im Krieg von einem siegreichen Krieger geküsst wird, macht deutlich, wie fremdbestimmt, ja fast gewaltsam sie in diese Rolle gelangte. Diese Schilderung verweigert sich der Vorstellung, dass weibliches Dichten automatisch aus Liebeserfahrung hervorgehe.

Stattdessen ist ihre Liebe eine imaginierte, unerfüllte – in der vierten Strophe dichtet sie sich den „zärtlichsten der Männer“ herbei, den sie nie besaß. Ihre Liebeslieder entstehen nicht aus gelebter Sinnlichkeit, sondern aus Sehnsucht, Vorstellungskraft und dichterischer Empathie. Die letzte Strophe bringt dies auf den Punkt: Was man nie erreicht, was unerfüllt bleibt, prägt sich umso tiefer ein. Diese Unerfülltheit wird zum poetischen Antrieb – wie ein Kranker, der im Traum den Wein kostet, den er im Leben nie trank.

„An den Dohmherrn von Rochow“ ist somit ein kraftvolles poetisches Selbstzeugnis. Anna Louisa Karsch widerspricht dem romantischen Klischee der Muse, indem sie zeigt, dass Dichtung nicht zwangsläufig aus erfüllter Liebe entsteht, sondern ebenso aus Leid, Fantasie und unerreichter Sehnsucht. Das Gedicht ist ein stolzes, zugleich melancholisches Bekenntnis zur Kraft der Vorstellung, die zur wahren Quelle dichterischen Ausdrucks wird.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.