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Berliner Schnitzel

Von

1.
Motto
(
Programm
)

Kein rückwärts schauender Prophet,
Geblendet durch unfaßliche Idole,
Modern sei der Poet,
Modern vom Scheitel bis zur Sohle.

2.

Verruchtes Epigonenthum,
Egypter- und Teutonenthum,
Daß dich der Teufel brate!
Schon längst sind wir fascikelsatt,
Grinst doch durch jedes Titelblatt
Das Dante’sche „Lasciate“!

3.

Ihr armen Dichter, die ihr „Philomele“,
In jedem Lenze rythmisch angeschwärmt,
O wenn ihr wüßtet, wie sich meine Seele
Um ihre gottverlassnen Schwestern härmt!
Dreht ihr auch noch so ernsthaft eure Phrase,
Der Teufel setzt sie lustig in Musik,
Denn eine ungeheuer lange Nase
Hat seine Großmama, die Frau Kritik.

4.

Nicht wahr, Du bist ein großes Thier?
So sprich, was ist zum Dichten nütze?
Eine Perryfeder, ein Stück Papier,
Ein Tintenfaß und – ein Schädel voll Grütze!

5.

Ihr schwatzt befrackt hoch vom Katheder
Von alter und von neuer Kunst,
Von Fleischgenuß und Sinnenbrunst,
Und gerbt nur Leder, altes Leder.
Ihr laßt um jede Attitüde
Ein weißgewaschnes Hemdchen wehn;
Denn um die Schönheit nackt zu sehn,
Sind eure Seelen viel zu prüde.

6.

Ja, unsre Zeit ist eine Dirne,
Die sich als „Mistreß“ producirt,
Mit Simpelfranzen vor der Stirne
Und schauderhaft decolletirt.
Sie raubt uns alle Illusionen,
Sie turnt Trapez und paukt Klavier –
Und macht aus Fensterglas Kanonen
Und Kronjuwelen aus Papier!

7.

Urewig ist des großen Welterhalters Güte,
Urewig wechselt Herbstblatfall und Frühlingsblüthe,
Urewig rollt der Klangstrom lyrischer Gedichte:
Ein jedes Herz hat seine eigne Weltgeschichte.

8.

Ich bin ein Dichter und kein Papagei
Und lieb es drum, in unsre Zeit zu schauen;
Und doch mißfällt an ihr mir dreierlei,
Und dieses Factum kann ich nicht verdauen.
Die junge Dame weint sich nicht mehr „blind“,
Die jungen Herrn sind meistens eitle Schöpfe,
Und – „last not least“ – die echten Thränen sind
Noch seltner heute als die echten Möpse.

9.

Die Simpeldichter hör ich ewig flennen,
Sie tuten alle in dasselbe Horn
Und nie packt sie der dreimal heil’ge Zorn,
Weil sie das Elend nur aus Büchern kennen.

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Gedicht: Berliner Schnitzel von Arno Holz

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „„Berliner Schnitzel““ von „Arno Holz“ ist ein scharfzüngiges, satirisches Poem in mehreren Abschnitten, das die literarische und gesellschaftliche Situation der Moderne kommentiert – mit beißendem Humor, bissiger Polemik und einem entschlossenen Bekenntnis zur Gegenwart. Es richtet sich gegen das Epigonentum, gegen erstarrte Formtraditionen, gegen falsche Sentimentalität und eine Kunst, die den Kontakt zur Realität verloren hat.

Bereits das „Motto“ formuliert das Grundprogramm: Der moderne Dichter soll sich nicht rückwärts an Ideale und „unfassliche Idole“ klammern, sondern sich ganz der eigenen Zeit zuwenden – „Modern vom Scheitel bis zur Sohle“. Diese Maxime verweist auf den Naturalismus, den Arno Holz maßgeblich mitprägte, und dessen Ideal, das Leben „ungefiltert“ in die Kunst zu übertragen.

In den folgenden Strophen zieht Holz über das literarische Establishment her: Über das „„verruchte Epigonenthum““, das immer noch in überkommenen Motiven schwelgt, das Dante-Zitate durch die Literaturwelt „grinsen“ lässt, das „Philomele“ (die Nachtigall als Symbol romantischer Dichtung) bemüht und damit alte Klischees bedient. Die Kritik ist frontal und verspottend – auch gegenüber einer kritikverwöhnten, realitätsfernen Literaturbetriebskultur.

Holz stellt dem eine neue Haltung gegenüber, etwa in der berühmten vierten Strophe: Zum Dichten braucht es keine hochtrabenden Ideale, sondern „ein Schädel voll Grütze“ – also Verstand, Wirklichkeitssinn und Humor. Immer wieder geht es um das Entlarven falscher Posen: Etwa der Professoren, die in Frack über Kunst dozieren, aber nur „altes Leder gerben“, oder der „jungen Dame“, die nicht mehr „blind“ vor Rührung weint – Zeichen eines Verlustes echter Emotion in einer zunehmend inszenierten Welt.

Besonders prägnant ist die Zeitdiagnose in Strophe 6: Die „Zeit ist eine Dirne“ – eine krasse Metapher, die auf die Oberflächlichkeit, Gier nach Sensation und Künstlichkeit des modernen Lebens zielt. Trapezturnen, Klavierspiel, Fensterglas-Kanonen und Papier-Kronjuwelen – alles ist Pose, nichts ist mehr echt. Doch auch das wird mit einem gewissen Sarkasmus, fast Genuss beschrieben.

Am Ende wendet sich das Gedicht erneut gegen eine Literatur, die Elend nur „aus Büchern kennt“ – gegen sentimentale Dichtung ohne Wirklichkeitskontakt. Holz ruft nach einer Literatur des Zorns, der Unmittelbarkeit, der Echtheit – und positioniert sich selbst als Teil einer neuen, unverbrauchten Generation.

„Berliner Schnitzel“ ist damit eine Art poetisches Manifest des literarischen Umbruchs. Es ist bewusst rau, volkstümlich, witzig und frech – ein Abgesang auf die Weichzeichner des 19. Jahrhunderts und ein lautes Plädoyer für eine neue, kritische, moderne Dichtung.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.