Reiselied
Wasser stürzt, uns zu verschlingen,
Rollt der Fels, uns zu erschlagen,
Kommen schon auf starken Schwingen
Vögel her, uns fortzutragen.
Aber unten liegt ein Land,
Früchte spiegelnd ohne Ende
In den alterslosen Seen.
Marmorstirn und Brunnenrand
Steigt aus blumigem Gelände,
Und die leichten Winde wehn.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Reiselied“ von Hugo von Hofmannsthal ist ein kurzer, aber eindrucksvoller poetischer Text, der zwischen Bedrohung und Verheißung, Gefahr und Schönheit oszilliert. In nur zwei Strophen entwirft Hofmannsthal ein dramatisches und zugleich traumhaft entrücktes Szenario, das sich weniger als konkretes Reisebild denn als symbolische Seelenlandschaft lesen lässt.
Die erste Strophe schildert eine existenzielle Bedrohung: Wasser, Felsen, Vögel – alles scheint sich gegen das lyrische Ich zu wenden, um es zu verschlingen, zu erschlagen oder zu entführen. Diese Naturgewalten wirken übermächtig, beinahe apokalyptisch. Die Welt erscheint hier als feindlich und unberechenbar, voller Gewalt und Bewegung. Doch der Ton bleibt ruhig, fast resigniert, als würde das Ich diese Kräfte mit einer Art stiller Ergebenheit betrachten.
In krassem Gegensatz dazu steht die zweite Strophe, die ein geradezu arkadisches Bild entwirft: ein „Land“ liegt „unten“, spiegelnd in „alterslosen Seen“, mit „Früchten“, „blumigem Gelände“ und leichten Winden. Diese Landschaft wirkt wie ein utopisches Jenseits, ein Ort der Ruhe, Schönheit und Zeitlosigkeit. Der Kontrast zwischen oben (Bedrohung) und unten (Verheißung) könnte als Bild des Übergangs vom irdischen Leben in eine transzendente, vielleicht mythisch-ideale Welt gelesen werden.
Auch die Bildsprache trägt zu dieser Ambivalenz bei: Der „Marmorstirn“ und „Brunnenrand“ aus dem „blumigen Gelände“ deuten auf klassische Schönheit und Kühle hin – Symbole von Dauer und Erhabenheit. Die „leichten Winde“, die zum Schluss erwähnt werden, kontrastieren mit dem „Sturz“ und „Rollen“ der ersten Strophe und markieren eine Bewegung der Befreiung, vielleicht sogar der Erlösung.
„Reiselied“ ist somit keine Reiseschilderung im herkömmlichen Sinn, sondern ein poetisches Sinnbild für den Übergang, möglicherweise zwischen Leben und Tod, Angst und Hoffnung, Chaos und Harmonie. Hofmannsthals Sprache bleibt vage, offen, traumhaft – ganz im Sinne seines impressionistischen und symbolistischen Stils, der weniger erklärt als ahnen lässt. In seiner Kürze entfaltet das Gedicht eine dichte emotionale Spannung und eine stille Sehnsucht nach einem anderen, friedvolleren Ort.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.