Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

Sieben schizophrene Sonette

Von

Wir, Johann, Amadeus Adelgreif,
Fürst von Saprunt und beiderlei Smeraldis,
Erzkaiser über allen Unterschleif
Und Obersäckelmeister vom Schmalkaldis

Erheben unsern grimmen Löwenschweif
Und dekretieren vor den leeren Saldis:
„Ihr Räuberhorden, eure Zeit ist reif.
Die Hahnenfeder ab, ihr Garibaldis.

Man sammle alle Blätter unserer Wälder
Und stanze Gold daraus, soviel man mag,
Das ausgedehnte Land braucht neue Gelder.

Und eine Hungersnot liegt klar am Tag.
Sofort versehe man die Schatzbehälter
Mit Blattgold aus dem nächsten Buchenschlag.“

Als ich zum ersten Male diesen Narren
Mein neues Totenwäglein vorgeführt,
War alle Welt im Leichenhaus gerührt
Von ihren Selbstportraits und anderen Schmarren.

Sie sagten mir: nun wohl, das sei ein Karren,
Jedoch die Räder seien nicht geschmiert,
Auch sei es innen nicht genug verziert
Und schließlich wollten sie mich selbst verscharren.

Sie haben von der Sache nichts begriffen,
Als daß es wurmig zugeht im Geliege
Und wenn ich mich vor Lachen jetzt noch biege,

So ist es, weil sie drum herum gestanden,
Die Pfeife rauchten und den Mut nicht fanden,
Hineinzusteigen in die schwarze Wiege.

In Schnabelschuhen und im Schnürkorsett
Hat er den Winter überstanden,
Als Schlangenmensch im Teufelskabinett
Gastierte er bei Vorstadtdilettanten.

Nun sich der Frühling wieder eingestellt
Und Frau Natura kräftig promenierte,
Hat ihn die Lappen- und Attrappenwelt
Verdrossen erst und schließlich degoutieret.

Er hat sich eine Laute aufgezimmert
Aus Kistenholz und langen Schneckenschrauben,
Die Saiten rasseln und die Stimme wimmert,
Doch läßt er sich die Illusion nicht rauben.

Er brüllt und johlt, als hinge er am Spieße.
Er schwenkt jucheiend seinen Brautzylinder.
Als Schellenkönig tanzt er auf der Wiese
Zum Purzelbaum der Narren und der Kinder.

Ein Opfer der Zerstückung, ganz besessen
Bin ich – wie nennt ihr′s doch? – ein Schizophrene.
Ihr wollt, daß ich verschwinde von der Szene,
Um euren eigenen Anblick zu vergessen.

Ich aber werde eure Worte pressen
In des Sonettes dunkle Kantilene.
Es haben meine ätzenden Arsene
Das Blut euch bis zum Herzen schon durchmessen.

Des Tages Licht und der Gewohnheit Dauer
Behüten euch mit einer sichern Mauer
Vor meinem Aberwitz und grellem Wahne.

Doch plötzlich überfällt auch euch die Trauer.
Es rüttelt euch ein unterirdischer Schauer
Und ihr zergeht im Schwunge meiner Fahne.

Gewöhnlich kommt es, wenn die Lichter brennen.
Es poltert mit den Tellern und den Tassen.
Auf roten Schuhen schlurrt es in den nassen
Geschwenkten Nächten und man hört sein Flennen.

Von Zeit zu Zeit scheint es umherzurennen
Mit Trumpf, Atout und ausgespielten Assen.
Auf Seil und Räder scheint es aufzupassen
Und ist an seinem Lärmen zu erkennen.

Es ist beschäftigt in der Gängelschwemme
Und hochweis weht dann seine erzene Haube,
Auf seinen Fingern zittern Hahnenkämme,

Mit schrillen Glocken kugelt es im Staube.
Dann reißen plötzlich alle wehen Dämme
Und aus der Kuckucksuhr tritt eine Taube.

Auch konnt es unserm Scharfsinn nicht entgehen,
Daß ein Herr Geist uns zu bemäkeln pflegt,
Indem er ein Pasquill zusammenträgt,
Das ihm die Winde um die Ohren säen.

Bald kritzelt er, bald hüpft er aufgeregt
Um uns herum, dann bleibt er zuckend stehen
Und reckt den Schwartenhals, um zu erspähen,
Was sich in unserm Kabinett bewegt.

Den Bleistiftstummel hat er ganz zerbissen,
Die Drillichnaht ist hinten aufgeschlissen,
Doch dünkt er sich ein Diplomatenjäger.

De fakto dient bewußter Schlingenleger
Dem Kastellan als Flur- und Straßenfeger
Und hat das Recht die Kübel auszugießen.

Ich bin der große Gaukler Vauvert.
In hundert Flammen lauf ich einher.
Ich knie vor den Altären aus Sand,
Violette Sterne trägt mein Gewand.
Aus meinem Mund geht die Zeit hervor,
Die Menschen umfaß ich mit Auge und Ohr.

Ich bin aus dem Abgrund der falsche Prophet,
Der hinter den Rädern der Sonne steht.
Aus dem Meere, beschworen von dunkler Trompete,
Flieg ich im Dunste der Lügengebete.
Das Tympanum schlag ich mit großem Schall.
Ich hüte die Leichen im Wasserfall.

Ich bin der Geheimnisse lächelnder Ketzer,
Ein Buchstabenkönig und Alleszerschwätzer.
Hysteria clemens hab ich besungen
In jeder Gestalt ihrer Ausschweifungen.
Ein Spötter, ein Dichter, ein Literat
Streu ich der Worte verfängliche Saat.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Sieben schizophrene Sonette von Hugo Ball

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Sieben schizophrene Sonette“ von Hugo Ball ist eine komplexe und vielschichtige Auseinandersetzung mit dem Wahnsinn, der Fragmentierung der Persönlichkeit und der Zerrissenheit der modernen Existenz. Die sieben Sonette entfalten ein Kaleidoskop von Bildern, die durch eine surreale, oftmals groteske und provokative Sprache verbunden sind. Ball nutzt die Sonettform, um seine Gedanken zu strukturieren, gleichzeitig aber die Konventionen zu brechen und die Grenzen des Verständnisses auszuloten.

Die Sonette scheinen aus der Perspektive verschiedener, sich überlagernder „Ichs“ zu sprechen, die in einer zerrissenen Welt gefangen sind. Wir begegnen einer Vielzahl von Figuren: einem selbsternannten „Erzkaiser“, einem „Gaukler Vauvert“, einem „Schizophrene“ und einem „Geist“, der die anderen beobachtet und kritisiert. Diese Figuren sind nicht klar voneinander abgegrenzt, sondern verschmelzen in einem Strom von Bildern und Assoziationen, was die Fragmentierung der Psyche widerspiegelt. Die Sprache ist dicht, assoziativ und voller Anspielungen, was es schwierig macht, eine lineare Interpretation zu erstellen.

Das Gedicht thematisiert die Suche nach Identität und Sinn in einer Welt, die von Krieg, Zerstörung und dem Verlust traditioneller Werte geprägt ist. Die Bilder von Hungersnot, Zerstückelung, Wahnsinn und Trauer evozieren ein Gefühl von Isolation und Entfremdung. Gleichzeitig gibt es Momente der Rebellion und des Aufbegehrens gegen die gesellschaftlichen Normen. Das Gedicht hinterfragt die Realität und die Wahrnehmung, indem es die Grenzen zwischen Vernunft und Wahnsinn, zwischen dem Inneren und dem Äußeren verwischt.

Ein wiederkehrendes Motiv ist die Macht der Sprache und des Schreibens. Die Sonette selbst werden zu einem Instrument, um die Zerrissenheit auszudrücken, zu verarbeiten und zu verändern. Der Dichter scheint die Möglichkeit zu suchen, die Welt durch die Sprache zu erfassen und zu formen, selbst wenn diese Welt chaotisch und unverständlich erscheint. Die Sonette sind ein Versuch, die Unfassbarkeit des menschlichen Daseins in Worte zu fassen, auch wenn dies bedeutet, die Konventionen der Sprache und der Form zu sprengen.

Insgesamt ist das Gedicht ein komplexes und herausforderndes Werk, das den Leser dazu einlädt, sich auf die Welt des Wahnsinns und der Fragmentierung einzulassen. Es ist eine düstere, aber auch faszinierende Reflexion über die menschliche Psyche, die Rolle der Kunst und die Suche nach Sinn in einer zerrissenen Welt. Ball setzt hier auf einen radikalen Bruch mit traditionellen Vorstellungen von Poesie und eröffnet damit einen Raum für eine tiefere Auseinandersetzung mit der menschlichen Existenz.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.