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Die weiße Qualle

Von

Dein Leib, vielgliedrig, ist ein tierhaft Gewächse aus Fleisch.
Fischer haben entsetzt dich herausgezogen in ihren Netzen:
Eine menschliche Qualle, ein Fabeltier, eine weiße Spinne.

Händler haben dich auf den Markt geworfen und ausgeschrieen.
Einen Palast ans Bambus hat man dir aufgebaut.
Ein Gehäuse hat man dir hergerichtet voll Seltsamkeit.

Du liebst es, nackt ausgestreckt auf dem Rücken zu liegen
Stunden- und tagelang. Du heftest nur widerwillig dich an das Herz
Der Männer. Langsam ist dein Umschlingen. Langsam dein Austasten.

Aber dann saugst du dir unerbittlich die Nahrung:
Hirn und das Herz und ein wenig Lunge. Dein Leib bleibt kühl.
Nur daß er mit Rosen schwillt, durchsichtig, und duftet nach Tang.

Oft auch ist dein Gemach eine glitzernde Fläche aus Tränen.
Dann sehnst du dein fernliegend Reich zurück und die Zymbeln der Sonne,
Phantastischer Träume voll, die von den Zähnen dir klingen.

So bist du ein Abenteuer, das roh in den Alltag verschleppt ward.
Feuer auf Goldgrund. Affen und grüne Geigen und Unzuchtsbäume.
Der Himmel ist deinen schiefen Augen eine brennende Glasmalerei.

Du hast deinen Kelch geöffnet. Du bist eine Raubblume im Käfig.
Du hast deine Fingerspitzen mir an die Schläfen gesetzt.
Ich taumle hernieder, von Wahnsinn getroffen, und zittre im Fallen.

Ich will dich Meer nennen, wenn unsre Liebe stammelt
Und du mich stößest gleich einem haltlosen Schiff,
Das auf Wogen der Wollust schaukelt.

Mit deines Rückens blanker Geschmeidigkeit
Sollst du das Bett uns glätten, daß es sich wölbend schließt
Über uns wie die Muschel sich schließt über Perlengut
Das im Scharlachbaum der Korallen hängt.

Deine gewölbten Zähne blinken wie ein Türkishalsband.
Deine Brüste stehen da wie die Tortürme
Einer bestürzten Stadt, die den Feind erwartet
Aus der Ebene.

Dreimal geöffnet ist mir dein Leib, in Reife dahingestreckt
Mit tauglänzenden Gliedern, daß er geplündert werde.
Du bist sehr wirr und voller Taumel und läßest den Feind ein.

Aber ich liebe dich, weil dir der Brunnen des Lebens
Jauchzt in der Brusthöhle, selig und übersüß.
Weil du mein Becken der Qualen bist, das ich lachend

Umschließe mit meinen Armen. Du bist nur ein Schrei noch,
Ein in Musik gebrochener. Und du wirst Worte finden
Lieblich und klein wie die Veilchenschar, die versammelt ist
An den Abhängen der Kalkfelsen.

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Gedicht: Die weiße Qualle von Hugo Ball

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die weiße Qualle“ von Hugo Ball ist eine Metapher auf die zerstörerische, aber faszinierende Kraft einer femme fatale, einer Frau, die durch ihre Sinnlichkeit und ihren Reiz einen Mann in den Wahnsinn treibt und letztendlich zerstört. Die „weiße Qualle“ verkörpert diese verführerische, aber gefährliche Gestalt, die zunächst als ein seltsames, unheimliches Wesen beschrieben wird, das aus dem Meer gezogen und auf dem Markt zur Schau gestellt wird.

Ball verwendet eine bildreiche Sprache, um die Anziehungskraft und die zerstörerische Natur der Qualle zu beschreiben. Sie wird als „tierhaft Gewächse aus Fleisch“ dargestellt, das langsam und unerbittlich ihre Opfer aussaugt. Die Metaphern von „Hirn und Herz“ als Nahrung der Qualle unterstreichen die Idee, dass sie nicht nur den Körper, sondern auch den Geist des Mannes verzehrt. Das Gedicht ist voller Gegensätze, wie die kühle, transparente Natur der Qualle im Gegensatz zu ihrer zerstörerischen Kraft und die Mischung aus Schönheit und Gefahr. Der Mann ist gleichzeitig fasziniert und zerstört, angezogen von ihrer Sinnlichkeit und zugleich von ihrem Einfluss gefangen.

Die späteren Strophen vertiefen die ambivalente Beziehung zwischen dem Ich-Erzähler und der Qualle. Die Qualle wird als „Raubblume im Käfig“ dargestellt, was ihre Gefangenschaft und zugleich ihre Gefährlichkeit betont. Die Zeilen „Ich taumle hernieder, von Wahnsinn getroffen, und zittre im Fallen“ verdeutlichen den Einfluss der Qualle auf den Erzähler. Trotz des Schmerzes und der Zerstörung, die sie verursacht, drückt er seine Liebe zu ihr aus, was die widersprüchliche Natur der Beziehung noch verstärkt.

Das Gedicht gipfelt in einem ekstatischen Liebesbekenntnis, das die Vereinigung der Liebenden in einer Welt der Wollust und des Wahnsinns zelebriert. Die Metaphern von „Meer“, „haltloses Schiff“ und „Muschel“ unterstreichen die Sinnlichkeit und die Hingabe, während die „Tortürme einer bestürzten Stadt“ und die „Feinde“ eine angespannte Atmosphäre der Gefährlichkeit und des bevorstehenden Untergangs schaffen. Das Gedicht endet mit der Hoffnung auf die Transformation von Schmerz in Schönheit, von Schreien in Musik und von Wahnsinn in Worte, was die paradoxe Natur der Liebe und des Verlustes hervorhebt.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.