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Das Insekt
Laßt uns den Gottesdienst des Insekts aufrichten!
Lasset uns einen Gott anbeten, der Augen hat, die wie Rubine stechen!
Der Flügel hat, voll hieratisch zuckender Aufregungen frühgotischer Fenster.
Und einen roten Leib.
Seine Beine sind lang wie die Lotfäden, die von den Schiffen herunterhängen
In die finsteren Meere. Sein Leib ist errichtet in der obszönen Gelenkigkeit
Der Seiltänzer, Akrobaten und Kabarettistinnen. Wenn ihn Wollust verkrampft,
Vermag er den eigenen Stachel zu lecken.
Ganz kleine Hände haben die Stammesgenossen. Sie wohnen in den nassen Fichten.
Wahnsinnig sind sie vor zuviel Empfindlichkeit. Sie zucken vor Schmerzen bei jedem Hauch.
Ihre Augen sind lebende Edelsteine. Doch es gibt Sekten und Priesterschaften,
Die starren nur stets apathisch vor sich hin.
Sie unternehmen viel donquichotische Feldzüge gegen den Himmel. Sie surren wie Flugmaschinen.
Sie sind ein Geschlecht von Entdeckern und kennen die Tragikkomödien der Kühnheit.
Tagsüber sind sie verborgen in den Wäldern, die von den Zeltlagern der Spinnen
Und weißen Traghimmeln wundersam überdeckt sind.
Manche auch aus den Millionen des Volkes suchen die Gloriolen der Sonne auf:
Die kleinen Fatamorganen und Luftgebilde und Strahlenvorhöfe des Kopfgestirns.
Dort führen sie ein goldhymnisches Dasein mit Tanzen und Toben und stürzen
Kopfüber auf Gartentische herab und begatten sich wütend.
Andere steuern vorbei an Kirchtürmen, Fabrikschloten und Dämmerungen
Über die höllischen Städte und Brückenbögen und Eiffeltürme
Über die drohenden Dampfkräne der Hafenstädte, die Wolkenkratzer Newyorks
Nach unratbaren Zielen der Schwermut.
Sie haben Völker und Götter und Mythen untereinander. Althochheilige Bräuche
Und Philosophien. Sie sind Feueranbeter. Sie pflegen den Selbstmord.
Sie fliehen die Erde und deren Plumpheit. Sie sind nicht abzuhalten
Von ihrem Verderben.
Sie nahen in großen Zügen den Bogenlampen, den öffentlichen Schaustellungen
Und Bahnhofshallen. Wo in verschollner Gelehrtenstube eines Gebirgsdorfes
Eine weitsichtbare Lampe brennt, dort sitzen sie in großen Versammlungen,
Ganz verzückt und stieren maßlos ins Licht.
Dreimal und viermal und zehnmal mit dem Furor der Besessnen und Todgeweihten
Stürzen sie sich in die Magie dieses Feuermeers, hochtrabend und gierig.
Bis sie vom Funken erfaßt aufknistern und prasseln und Schiffbruch leiden
Wie Segelschiffe mit brennendem Takelwerk.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Das Insekt“ von Hugo Ball ist eine vielschichtige Metapher, die das Wesen des Menschen und seine Beziehung zur Welt beleuchtet. Es ist eine Hommage an das Insekt, das hier als Symbol für eine bestimmte Geisteshaltung dient: die des Künstlers, des Suchenden, desjenigen, der sich von der Welt angezogen und zugleich von ihr verzehrt fühlt. Das Gedicht ist weit mehr als nur eine Beschreibung von Insekten; es ist eine Reflexion über menschliche Leidenschaft, Hingabe und das Streben nach dem Schönen, auch wenn dieses Streben zur Selbstzerstörung führt.
Die ersten Strophen etablieren das Insekt als Gottheit, als Objekt der Verehrung. Ball nutzt bildreiche Sprache, um die physischen Eigenschaften des Insekts zu beschreiben und ihnen eine mystische Bedeutung zu verleihen. Die „Rubinaugen,“ die „hieratisch zuckenden Aufregungen“ der Flügel und der „rote Leib“ evozieren Bilder von Schönheit und Intensität, aber auch von Gefahr und Leidenschaft. Die Insekten werden als Akrobaten und Seiltänzer dargestellt, was ihre Geschicklichkeit, aber auch ihre Verletzlichkeit hervorhebt. Die Erwähnung von „Wollust“ und der Fähigkeit, den „eigenen Stachel zu lecken,“ deutet auf eine ambivalente Beziehung zur Sinnlichkeit und zum Selbst hin.
In den folgenden Strophen wird die Diversität der Insektenwelt aufgezeigt, die von „Wahnsinn“ und „zu viel Empfindlichkeit“ geprägt ist. Die Insekten werden als „Entdecker“ und Träger von „Tragikkomödien der Kühnheit“ charakterisiert, was ihren Drang nach Abenteuer und ihre Fähigkeit, die Widersprüche des Lebens zu erfahren, unterstreicht. Sie werden in ihrer Suche nach Erleuchtung und Schönheit dargestellt, sei es durch die „Gloriolen der Sonne“ oder durch das Überwinden von städtischen Strukturen und landschaftlichen Gegebenheiten. Es ist ein starkes Symbol für das menschliche Verlangen nach Transzendenz.
Der Höhepunkt des Gedichts ist die Beschreibung des Insekts, das sich dem Licht zuwendet, ein wiederkehrendes Motiv, das an die mythische Anziehungskraft des Lichts und der Flamme erinnert. Die „Bogenlampen,“ die „öffentlichen Schaustellungen“ und die „weitsichtbare Lampe“ werden zu Magneten für die Insekten. Das Gedicht endet mit einem eindringlichen Bild des selbstzerstörerischen Drangs, der die Insekten in die Flamme treibt, wo sie schließlich „aufknistern und prasseln und Schiffbruch leiden.“ Dieses Bild der Selbstzerstörung ist tragisch, aber auch ergreifend, da es die ungestüme Leidenschaft und die Hingabe der Insekten an ihr Ziel verdeutlicht.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „Das Insekt“ eine kraftvolle Metapher für die menschliche Existenz ist. Es feiert die Leidenschaft, die Kreativität und den Drang nach Transzendenz, warnt aber gleichzeitig vor den Gefahren der Besessenheit und der Selbstzerstörung. Ball verwendet eine reiche und bildreiche Sprache, um eine Welt zu erschaffen, in der Insekten zu Symbolen menschlicher Sehnsüchte und Ängste werden. Das Gedicht ist eine Ode an das Leben in all seinen Facetten, einschließlich des Scheiterns und des Todes, und erinnert uns daran, dass das Streben nach dem Schönen und die Bereitschaft, Risiken einzugehen, untrennbar mit der menschlichen Erfahrung verbunden sind.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.