Hochsommer
O Frühling, holder fahrender Schüler,
Wo zogst du hin? Die Linden blühn,
Die Nächte werden stiller, schwüler,
Und dichter schwillt das dunkle Grün.
Doch ach! die schönen Stunden fehlen,
Wo jedes Leben überquoll,
Wo trunken alle Schöpfungsseelen
Ins Blaue schwärmten wollustvoll.
Nicht singt mehr, wie am Maienfeste,
Die Nachtigall, die Rosenbraut;
Sie fliegt zum tiefverborgnen Neste
Mit mütterlich besorgtem Laut.
Der goldne längste Tag ist nieder,
Der Himmel voll Gewitter glüht;
Verklungen sind die ersten Lieder,
Die schönsten Blumen sind verblüht.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Hochsommer“ von Hermann Lingg beschreibt auf melancholische Weise den Übergang vom Frühling zum Hochsommer und die damit einhergehenden Veränderungen in der Natur und im Empfinden des lyrischen Ichs. Der Frühling, als „holder fahrender Schüler“ personifiziert, wird als eine Zeit des Aufbruchs und der Lebendigkeit charakterisiert, die nun vorüber ist. Die einsetzende Stille und Schwüle deuten auf eine Veränderung hin, die von Sehnsucht nach den verlorenen Freuden des Frühlings begleitet wird.
Die zweite Strophe verstärkt den Eindruck der Trauer über das Vergehen der Zeit und die Abnahme der Lebensfreude. Die Metapher des „trunkenen“ Schwärmens im „Blauen“ evoziert ein Bild überschwänglicher Lebenslust, die nun verblasst. Der „Maienfeste“ wird als Erinnerung an die vergangenen, glücklichen Zeiten herangezogen, in denen das Leben in Fülle vorhanden war. Der Vergleich mit dem Sommer, der durch seine Schönheit und Reife beeindruckt, aber auch etwas von seiner Frische und Leichtigkeit verloren hat, wird hier deutlich.
In der dritten Strophe wird die Stille und das Nachlassen der Lebensfreude weiter durch das Schweigen der Nachtigall, der „Rosenbraut“, verdeutlicht. Statt des Gesangs, der Freude und Liebe, ist nun ein besorgtes, mütterliches Verhalten zu beobachten. Dies unterstreicht den Wandel von einer Zeit der unbeschwerten Freude zu einer Zeit der Fürsorge und des Rückzugs. Auch die Natur scheint sich auf die kommende Zeit der Ruhe vorzubereiten.
Die letzte Strophe kulminiert in einer düsteren Beschreibung des Hochsommers, in dem der „goldne längste Tag“ bereits abgenommen hat und der Himmel von Gewittern erfüllt ist. Die „ersten Lieder“ sind verklungen und die „schönsten Blumen“ verblüht. Diese Bilder symbolisieren das Ende der Jugend, die Vergänglichkeit der Schönheit und die Gewissheit des Wandels. Das Gedicht endet mit einer bittersüßen Melancholie über den Verlust des Frühlings und der damit verbundenen Lebensfülle.
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Lizenz und Verwendung
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