Der Visionarr
Lampe blöck nicht.
Aus der Wand fuhr ein dünner Frauenarm.
Er war bleich und blau geädert.
Die Finger waren mit kostbaren Ringen bepatzt.
Als ich die Hand küsste, erschrak ich:
Sie war lebendig und warm.
Das Gesicht wurde mir zerkratzt.
Ich nahm ein Küchenmesser und zerschnitt ein paar Adern.
Eine große Katze leckte zierlich das Blut vom Boden auf.
Ein Mann indes kroch mit gesträubten Haaren
Einen schräg an die Wand gelegten Besenstiel hinauf.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Der Visionär“ von Jakob van Hoddis zeichnet sich durch eine düstere und surrealistische Bildsprache aus, die mit einem intensiven Ausdruck von Angst, Unwirklichkeit und Absurdität spielt. Der Beginn des Gedichts ist bereits stark von einer verstörenden Atmosphäre geprägt. Die „Lampe blöck“ lässt an eine verzerrte Wahrnehmung der Welt denken, während die surrealen, fast traumhaften Bilder von einem „dünnen Frauenarm“ und „kostbaren Ringen“ den Leser in eine fremdartige, schockierende Szenerie entführen. Der Arm, der aus der Wand hervorgeht, ist ein starkes Bild für die Grenzen zwischen der Realität und einer übernatürlichen Dimension, die durch das Gedicht hindurch immer weiter verschwimmen.
Die Tatsache, dass die Hand „lebendig und warm“ ist, verstärkt den Eindruck einer unheimlichen Verführung und der Gleichzeitigkeit von Leben und Tod. Das Küsserlebnis, das zunächst wie ein Akt der Zuneigung erscheint, wird durch das „zerkratzte Gesicht“ und das Zerscheiden der Adern mit einem „Küchenmesser“ jedoch schnell zu einem Akt der Gewalt und der Zerstörung. Die Hand, die der Protagonist zunächst als etwas Wertvolles betrachtet, verwandelt sich im Laufe der Handlung in etwas Bedrohliches. Das Bild der Katze, die das Blut vom Boden leckt, fügt eine weitere verstörende Ebene hinzu: Es steht für eine Art von Instinkt und unkontrollierbarer Gewalt, die das Gedicht durchzieht.
Der Mann, der „mit gesträubten Haaren“ den Besenstiel hinaufkriecht, stellt eine weitere, absurde Figur dar, die wie eine verzerrte, nicht ganz greifbare Erscheinung wirkt. Der schräg an die Wand gelegte Besenstiel könnte auf den Versuch hindeuten, gegen die Schwerkraft oder gegen die „normale“ Ordnung der Welt zu kämpfen, was dem Gedicht einen weiteren surrealen Touch verleiht. Es entsteht der Eindruck eines fragilen Gleichgewichts, das sich aufzulösen droht, während der Mann symbolisch gegen etwas ankämpft, das er nicht kontrollieren kann.
Das Gedicht vermittelt eine dunkle Vision von einer Welt, die von Instinkt, Gewalt und übernatürlichen Kräften beherrscht wird. Es spielt mit der Idee der Entfremdung und Verwirrung und entfaltet eine Absurdität, die für den modernen Menschen eine tiefe Zerrissenheit und Orientierungslosigkeit widerspiegelt. Die surrealen Bilder, die gewaltsame Handlung und die unheimliche Atmosphäre schaffen eine verstörende Vision der modernen Welt, die nicht nur von äußeren, sondern auch von inneren Konflikten geprägt ist.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.