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Styx

Von

1.

Die Nebel graun, die keinem Winde weichen.
Die giftigen Dünste schwängern weit das Tal.
Ein blasses Licht scheint in der Toten Reichen,
Wie eines Totenkopfes Auge fahl.

Entsetzlich wälzt sich hin der Phlegeton.
Wie tausend Niagaras hallt sein Brüllen.
Die Klüfte wanken von den Schreien schon,
Die im Orkan die Feuerfluten füllen.

Sie glühn von Qualen weiß. Wie Steine rollen
Den Fluß herab sie in der trüben Glut,
Wie des geborstenen Eises Riesenschollen
So schmettert ihre Leiber hin die Flut.

Sie reiten aufeinander nackt und wild,
Von Zorn und Wollust aufgebläht wie Schwämme.
Ein höllischer Choral im Takte schwillt
Vom Grunde auf bis zu dem Kamm der Dämme.

Auf einem fetten Greise rittlings reitet
Ein nacktes Weib mit schwarzem Flatterhaar.
Und ihren Schoß und ihre Brüste breitet
Sie lüstern aus vor der Verdammten Schar.

Da brüllt der Chor in aufgepeitschter Lust.
Das Echo rollt im roten Katarakt.
Ein riesiger Neger steigt herauf und packt
Den weißen Leib an seine schwarze Brust.

Unzählige Augen sehn den Kampf und trinken
Den Rausch der Gier. Er braust durch das Gewühl,
Da in dem Strom die Liebenden versinken,
Den Göttern gleich im heißen Purpurpfühl.

2.

Des Himmels ewiger Schläfrigkeit entflohen,
Den Spinneweben, die der Cherubim
Erhobene Nasen schon wie Efeu decken,
Dem milden Frieden, der wie Öl so fett,
Ein Bettler, lungert in den Ecken faul,
Dem Tabaksdunst aus den Pastorenpfeifen,
Der Trinität, die bei den Lobgesängen
Von alten Tanten auf dem Sofa schläft,
Dem ganzen großen Armenhospital,
– Verdammten selbst wir uns und kamen her
Auf dieser Insel weite Ödigkeit,
Die wie ein Bootskiel in den Wellen steht,
Um bis zum Ende aller Ewigkeit
Dem ungeheuren Strome zuzuschaun.


Disclaimer: Historische Einordnung

Dieses Gedicht entstand in einer früheren historischen Epoche und enthält Begriffe oder Darstellungen, die aus heutiger Sicht als diskriminierend, verletzend oder nicht mehr zeitgemäß gelten. Die Veröffentlichung erfolgt ausschließlich zu literatur- und kulturhistorischen Zwecken sowie zur Förderung einer kritischen Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Text und seiner Zeit. Die problematischen Inhalte spiegeln nicht die heutige Haltung der Herausgeber wider, sondern sind Teil des historischen Kontextes, der zur Reflexion über den Wandel von Sprache, Werten und gesellschaftlichen Normen anregen soll.


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Gedicht: Styx von Georg Heym

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Styx“ von Georg Heym entwirft eine düstere, infernalische Vision der Unterwelt und kombiniert dabei antike Mythologie mit expressionistischer Bildsprache. Bereits zu Beginn taucht der Leser in eine albtraumhafte Landschaft ein, in der „Nebel“ das Tal verhüllen und ein „blasses Licht“ die Totenreiche erhellt. Die Atmosphäre ist toxisch und bedrückend – die Verse evozieren eine Welt des Verfalls und der Verdammnis, die dem klassischen Bild des Hades entlehnt ist.

Zentrales Element des Gedichts ist der Fluss Phlegethon, ein Feuerfluss aus der griechischen Mythologie, der hier mit ungeheurer Gewalt und Qualen beschrieben wird. Die „Feuerfluten“ sind von Schreien erfüllt, während die Verdammten in der glühenden Strömung umhergetrieben werden. In drastischen Bildern beschreibt Heym nackte, aufeinander reitende Körper, die zwischen Gewalt, Zorn und Wollust gefangen sind. Die Fluten werden zum Symbol einer sinnlosen, nie endenden Verdammnis, die in einem „höllischen Choral“ gipfelt.

Heyms Sprache ist durch starke Kontraste geprägt, besonders in der Szene mit dem „riesigen Neger“, der das „weiße Weib“ ergreift – eine drastische Darstellung von Gewalt und ekstatischer Raserei, die dem Gedicht eine archaische, unbarmherzige Kraft verleiht. Der Chor der Verdammten steigert sich in orgiastische Ekstase, während die Körper im „heißen Purpurpfühl“ des Flusses versinken. Die Bilder wirken übersteigert und grotesk, typisch für Heyms expressionistischen Stil.

In der zweiten Hälfte erfolgt ein Perspektivwechsel. Das lyrische Ich beschreibt sich selbst und andere als freiwillige Verdammte, die dem „milden Frieden“ der bürgerlichen Welt entflohen sind. Heym setzt hier eine scharfe Kritik an einer saturierten, selbstzufriedenen Gesellschaft, die im „ewigen Schlaf“ versunken ist. Der Gegensatz zwischen der tristen Behaglichkeit der Welt „der Pastorenpfeifen“ und der grausamen Lebendigkeit der Unterwelt wird bewusst zugespitzt.

So thematisiert das Gedicht auch die Flucht vor einer abgestumpften, sinnentleerten Existenz in die extremen, dunklen Bereiche des Daseins. „Styx“ zeigt eine Unterwelt als Ort des wilden Chaos und der archaischen Urtriebe, die als Gegenbild zur friedlich-lähmenden Oberwelt erscheint. Heym verbindet hier Mythologie, Gesellschaftskritik und expressionistische Übersteigerung zu einer kraftvollen und verstörenden Totenvision.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.