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Die Tote im Wasser

Von

Die Masten ragen an dem grauen Wall
Wie ein verbrannter Wald ins frühe Rot,
So schwarz wie Schlacke. Wo das Wasser tot
Zu Speichern stiert, die morsch und im Verfall.

Dumpf tönt der Schall, da wiederkehrt die Flut,
Den Kai entlang. Der Stadtnacht Spülicht treibt
Wie eine weiße Haut im Strom und reibt
Sich an dem Dampfer, der im Docke ruht.

Staub, Obst, Papier, in einer dicken Schicht,
So treibt der Kot aus seinen Röhren ganz.
Ein weißes Tanzkleid kommt, in fettem Glanz
Ein nackter Hals und bleiweiß ein Gesicht.

Die Leiche wälzt sich ganz heraus. Es bläht
Das Kleid sich wie ein weißes Schiff im Wind.
Die toten Augen starren groß und blind
Zum Himmel, der voll rosa Wolken steht.

Das lila Wasser bebt von kleiner Welle.
– Der Wasserratten Fährte, die bemannen
Das weiße Schiff. Nun treibt es stolz von dannen,
Voll grauer Köpfe und voll schwarzer Felle.

Die Tote segelt froh hinaus, gerissen
Von Wind und Flut. Ihr dicker Bauch entragt
Dem Wasser groß, zerhöhlt und fast zernagt.
Wie eine Grotte dröhnt er von den Bissen.

Sie treibt ins Meer. Ihr salutiert Neptun
Von einem Wrack, da sie das Meer verschlingt,
Darinnen sie zur grünen Tiefe sinkt,
Im Arm der feisten Kraken auszuruhn.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Die Tote im Wasser von Georg Heym

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Tote im Wasser“ von Georg Heym entfaltet eine düstere und unheimliche Szenerie, die den Tod mit der Tristesse eines verfallenden Hafens verbindet. Bereits die Eingangsbilder zeigen eine morbide Atmosphäre: Die Masten wirken wie ein „verbrannter Wald“, das Wasser starrt „tot“ zu den morschen Speichern. Die Welt des Hafens erscheint verlassen, schmutzig und vom Verfall gezeichnet. In diesem Bild des Verfalls steht die Tote im Zentrum, die in der Flut ans Ufer gespült wird.

Heym setzt die Leiche eindringlich in Szene, indem er sie zunächst nur als Teil des „Stadtnacht Spülichts“ beschreibt. Erst nach und nach enthüllt sich das „weiße Tanzkleid“ und das „bleiweiße Gesicht“. Die Tote wird zu einer gespenstischen Erscheinung, deren Kleidung sich „wie ein weißes Schiff im Wind“ bläht. Die Szenerie kippt dabei ins Surreale: Die Leiche scheint beinahe wie eine Seglerin auf ihrem letzten Weg, getrieben von Wind und Wasser, begleitet von Wasserratten, die ihr „weißes Schiff“ bemannen.

Heym verbindet in diesem Gedicht den Verfall des Körpers mit der Ästhetik eines makabren Totentanzes. Die bildhafte Sprache – vom „dicken Bauch“, der „zerhöhlt“ ist, bis hin zur „Grotte“, die von Bissen „dröhnt“ – verweist auf die physische Auflösung des Körpers im Wasser. Trotzdem bleibt eine fast groteske Feierlichkeit erhalten, wenn sogar „Neptun“ salutiert, bevor die Tote endgültig ins Meer gezogen wird.

Das Gedicht oszilliert zwischen Realismus und grotesker Verfremdung. Die Leiche wird nicht nur als Opfer der Stadt und ihrer Auswüchse gezeigt, sondern als Teil eines unaufhaltsamen Kreislaufs von Tod und Naturgewalten. Heyms Sprache lässt das Grauen fast märchenhaft erscheinen, mit einer makabren Romantik, die typisch für seinen expressionistischen Stil ist. Die Tote wird so zur Sinnfigur für Verfall und Auflösung in einer modernen Welt zwischen Stadtmüll und Natur.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.