Der Neid
Neide nicht, o junges Mädchen,
Deiner Schwester Lieblichkeit!
Ahme nicht mit heißem Eifer
Nach, was die Natur verbeut!
Eine Blume, noch im Werden,
Sah die Lilie vor sich stehn
Und, vergessend ihrer selber
(Denn auch sie war hold und schön),
Neidet, zürnt sie, brennet ängstig,
Lilie zu werden. Weh!
Was geschieht? Die arme Blume
Wird zu Feuerlilie.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Der Neid“ von Johann Gottfried Herder thematisiert das schädliche Gefühl des Neides und zeigt, wie es das Leben und die innere Harmonie einer Person zerstören kann. Zu Beginn richtet sich der Dichter direkt an das „junge Mädchen“ und warnt es davor, neidisch auf die „Lieblichkeit“ der Schwester zu sein und sich mit „heißem Eifer“ zu bemühen, ihr zu gleichen. Der Appell an das Mädchen spiegelt den universellen Rat, sich nicht mit anderen zu vergleichen, sondern die eigene Einzigartigkeit zu schätzen und zu bewahren. Die Zeile „Was die Natur verbeut“ hebt hervor, dass jeder Mensch seine eigene Bestimmung und Schönheit hat, die er in Harmonie mit sich selbst leben sollte.
In der zweiten Strophe wird der Neid durch das Bild einer Blume dargestellt, die das Wachstum der „Lilie“ beobachtet. Die „Lilie“ steht als Symbol für Schönheit und Vollkommenheit, und die Blume, die sie sieht, ist „noch im Werden“ – sie ist noch nicht vollständig entwickelt, aber schon in der Lage, sich selbst als schön und einzigartig zu sehen. Doch die Blume vergisst sich selbst, als sie von der „Lilie“ beeindruckt ist, und beginnt, sie zu beneiden. Der Neid lässt sie „zürnen“ und „ängstigen“, was darauf hinweist, wie dieser negative emotionale Zustand die innere Ruhe und das eigene Selbstwertgefühl stören kann.
Die dritte Strophe beschreibt die Konsequenz des Neides: Anstatt sich in ihrer eigenen Form zu entfalten, wird die Blume zu einer „Feuerlilie“. Diese Metamorphose verdeutlicht den zerstörerischen Einfluss des Neides. Während die „Lilie“ ein Symbol für natürliche Schönheit und Vollkommenheit ist, steht die „Feuerlilie“ für eine verzerrte, vielleicht sogar gefährliche Form der Selbstverwirklichung, die durch den Neid entstanden ist. Der Neid hat die Blume nicht nur davon abgehalten, ihre eigene Schönheit zu erkennen, sondern hat sie in eine weniger harmonische, möglicherweise selbstzerstörerische Form verwandelt.
Das Gedicht zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie Neid das eigene Leben entgleiten lassen kann, indem er den Blick von der eigenen Schönheit und Einzigartigkeit ablenkt und auf das, was andere besitzen, fokussiert. Die Blume, die zu einer „Feuerlilie“ wird, symbolisiert die schädlichen Folgen eines ungesunden Vergleichs mit anderen und den Verlust der eigenen Identität. Herder warnt somit eindrucksvoll davor, dass Neid nicht nur die Freude am eigenen Leben zerstört, sondern auch den natürlichen, gesunden Entwicklungsprozess eines Menschen beeinträchtigen kann.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.